Flieg Gedanke. Sybille und Manfred Specht
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Wieder zurück in Magdeburg
Die Schule hatte noch immer nicht wieder begonnen. Die ganztägige Freizeit währte allerdings nicht lange. In die Barbarastraße zog auch ein Lehrer ein, der alle schulpflichtigen Kinder der unmittelbaren Umgebung zum Privatunterricht einlud. Meine Eltern stimmten sofort zu. Bezahlt wurde mit Naturalien. Im Winter musste jeder Schüler zusätzlich ein Stück Kohle mitbringen. Wir waren zu sechst und saßen zusammen mit dem Lehrer um einen runden Esstisch herum. Der Name des Lehrers und die Anzahl der täglichen Unterrichtsstunden sind mir entfallen. Als dann die offizielle Schule wieder begann, wurden die meisten meiner ehemaligen Mitschüler ein Jahr zurückgestuft, während wir Privatklässler nahtlos an unsere letzte Unterrichtsstunde anschlossen. Ohne dass es mir bewusst wurde, war mein frühzeitiger Start von Bad Köstritz gerettet. Möglicherweise doch ein Primzahlprivileg.
Es blieb noch immer genügend Zeit, um sich einer Jugendbande anzuschließen und mitzuwirken. An der Straße stand ein zweigeschossiger Rohbau, ein während des Krieges angefangenes Wohnhaus. Das war unser Hauptquartier. Die Decke im Obergeschoss bestand nur aus Holzbalken im Abstand von etwa einem halben Meter. Absolut trittsicher liefen wir im Laufschritt darüber hinweg. Durch die Brandwand zum Nachbarteil brachen wir eine kleine Öffnung, durch die gerade ein Kinderkörper hindurch passte. Eine erwachsensperrige Fluchtburg. Der vorbeiführende Fußweg wurde mit Stolperdrähten abgeschirmt. Als eines Tages eine ältere Dame über einen der Drähte fiel und sich sehr schmerzhaft die Knie aufschlug, plagte uns das schlechte Gewissen. Mit einem Akkordeon sind wir zu ihrem Haus gezogen, haben uns entschuldigt und ein Lied gesungen. Das hat uns viele Sympathien eingebracht, was sich später auszahlen sollte.
Ganz in der Nähe, an der Grenzmauer des Sudenburger Krankenhauses (heute Medizinische Akademie, Gustav-Ricker-Krankenhaus) fuhr auf offener Straße eine Eisenbahn. Sie verband die Zuckerraffinerie mit dem Krupp-Gruson-Werk. Auf der Rückfahrt blieben die Tore der Güterwagen zur Entlüftung geöffnet. Wir stellten uns rücklings an die Mauer und enterten bei meistens langsamer Fahrt mit einem Hechtsprung einen Waggon. In den Ecken lagen immer große Haufen Zucker, vermutlich von geplatzten Papiersäcken.
Mütze runter und mit Zucker gefüllt. Unsere Mutter hatte so immer etwas zum Handeln auf dem Schwarzmarkt.
Eines Tages geschah das Unfassbare. Ein Bautrupp rückte an,um das Haus zu vollenden, und richtete eine Baustelle ein. Als der Polier auf dem Plumpshäuschen saß, schlichen wir uns von hinten an und kippten das Häuschen nach vorn um auf die Tür. „Laut ertönt sein Wehgeschrei, denn er fühlt sich schuldenfrei“ (Wilhelm Busch).
Ein Anwohner gegenüber der Baustelle stand im Verdacht, uns zu beobachten und auch zu verpfeifen. Nach Feierabend kaperten wir den einachsigen Plattenwagen mit langer Deichsel, richteten ihn zum Gegner aus und beluden die Deichselspitze mit einem Ziegelstein. Drei Freunde, die auf dem Wagen standen, schritten dann zugleich nach vorn zur Kante und ließen sie unten aufschlagen. Der Schwung katapultierte den Stein etwa dreißig Meter durch die Luft zielgenau in Nachbars Garten. Ich weiß nicht mehr, wie viele Steine wir ihm beschert haben. Gottlob, unsere Strafaktion verlief glimpflich ohne Personenschaden. So ging es noch einige Zeit weiter, bis eines Tages die Polizei auch bei uns vor der Tür stand. Entweder die gemeinen Umtriebe würden sofort aufhören oder man überlege die Einweisung in eine Erziehungsanstalt. Die Konsequenz war erklärtermaßen ein gehöriges elterliches Donnerwetter mit der tatsächlichen Folge einer anhaltenden Besserung.
Unsere Räuberburg war also verloren und neue politische Meldungen ließen bei den Erwachsenen wieder sorgenvolle Existenzängste aufkommen, die ohne Frage auch uns Kinder erreichten. Die Schreckensmeldung lautete, dass der Ami unsere Stadt (und weite Teile Mitteldeutschlands) gegen einen Teil Berlins eingetauscht hätte und wir in Kürze von sowjetischen Truppen besetzt würden. Eine ganze Nacht saßen Freunde und Bekannte unserer Eltern zusammen und sinnierten über die kurzfristigen Folgen, unser aller Zukunft und darüber, ob es einen möglichen Ausweg gäbe. Ein Teilnehmer verkündete, dass die vereinbarte Neuordnung den Amerikanern zwar jede Art von Bevölkerungsaustausch untersagt hätte, sie aber heute Nacht in jede Straße einen leeren Lkw abstellen würden. In den Morgenstunden käme dann ein Fahrer, der sich, ohne den Laderaum zu überprüfen, ans Steuer setzen und losfahren würde. Ja, aber wohin? Dem Ami war doch auch nicht zu trauen. Meine Eltern entschieden sich zu bleiben. Andere dagegen setzten sich mit allem, was sie tragen konnten, auf den Lkw und ließen sich in eine ungewisse Zukunft fahren.
Magdeburg wird sowjetische Besatzungszone
Den Wechsel der Besatzungsmacht nahmen wir anfangs nur am Rande wahr, wenn auf breiteren Durchgangsstraßen hin und wieder Militärfahrzeuge zu sehen waren. Meinen Vater bekamen wir Kinder immer seltener zu sehen. Offenbar zog er sich sukzessive zurück. Die Hauptlast, die Familie zu versorgen, lag schon in dieser schweren Zeit bei unserer tapferen Mutter. Sie muss es vortrefflich gemeistert haben, denn wir Kinder spürten wenig von der seinerzeitigen Not.
Nach einigen Wochen begann dann auch wieder der Schulbetrieb. Das Schulgebäude war beinahe unversehrt geblieben, ein prächtiger Bau aus der Gründerzeit, etwa zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Der Haupteingang zur Straße blieb geschlossen, so mussten alle Schüler, die aus meiner Richtung kamen, um das gesamte Gebäude herumgehen und den Eingang vom Pausenhof benutzen. Eine Herausforderung für kreative Geister. Ein etwa zwei Meter hoher Metallzaun mit aufrechten Spitzen auf einem halbhohen Mauersockel begrenzte den Schulhof. Mit Umsicht und etwas Übung war er kein wirkliches Hindernis und die Abkürzung wurde zum Normalfall. Allerdings nur kurzzeitig, denn der Herr Rektor verkündete ein strenges Verbot.
Ein renitenter Rest nahm, schon aus sportlichen Gründen, dennoch den kürzeren Nachhauseweg, zumindest gelegentlich. Jedoch einmal zu viel. Am Ende einer Unterrichtsstunde verlas unsere Lehrerin, übrigens sehr jung und schön, sieben Namen mit der Aufforderung, sie doch bitte zum Herrn Schulleiter zu begleiten. Aufgereiht standen wir nun zwei Meter vor dem Schreibtisch des Herrn Rektors und erwarteten die übliche Standpauke. Nichts geschah. Der Herr Rektor schaute kaum auf und erledigte, provozierend konzentriert, seine schriftlichen Arbeiten. Nach gefühlten fünf Minuten stand er plötzlich auf, schaute uns strafend an, wiederholte sein Verbot und beklagte unsere Missachtung. Angefangen von links bekam jeder der Reihe nach eine kräftige Backpfeife. Der Letzte fand das komisch, konnte sich das Grinsen nicht verkneifen und bekam auf die andere Seite gleich noch eine. Das wars, ab zurück in unsere Klasse.
Der Sportunterricht war sehr eingeschränkt. Keine Leichtathletik, kein Fuß- oder Handball, kein Geräteturnen, kein Schwimmunterricht. Alles war angeblich verboten. Nur Völkerball als einzige Ausnahme war gestattet. Der Lehrer durfte nicht „Antreten“ sagen oder ähnliche militärische Kommandos gebrauchen. Wir nahmen diesen Übereifer einfach hin und amüsierten uns anderweitig auf unsere Art.
Während einer großen Pause erwartete uns eines Tages eine große Gaudi. Zwei sowjetische Soldaten, von denen jeder irgendwo ein Fahrrad konfisziert und als volkseigen bewertet hatte, versuchten nun, vor unser aller Augen das Gleichgewicht zu halten. Wir haben uns köstlich amüsiert. Diese Szene kam mir immer wieder in einem späteren Gegenwartskunde-Unterricht in den Sinn, wenn wieder von der überragenden technischen Leistung des sowjetischen Systems die Rede war und behauptet wurde, dass die bedeutendsten Erfindungen russischen Ursprungs wären, sicherlich auch die des Fahrrads.
Eines Tages brach eine unerwartete Heimsuchung über uns herein. Deutsche Kommunisten und solche, die sich dafür ausgaben, sahen in der Roten Armee eine Schutzmacht, die sie zu den neuen Herren des Landes machten bis hin zu gesetzloser Machtvollkommenheit und der angemaßten Befugnis zur eigenen Bereicherung. Dazu beanspruchten sie das moralische Recht, ehemalige Erfüllungsgehilfen nach Gutdünken