Tempowahn. Winfried Wolf
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Der auch heute noch vorherrschende rücksichtlose Umgang mit den natürlichen Ressourcen in den USA hängt eng zusammen mit der Art und Weise, wie sich in Nordamerika die neuen Transportarten Binnenschifffahrt und vor allem Eisenbahnen durchsetzten. Es kommt zu einer spezifischen Ökonomie von »nature for capital«, des Einsatzes von Natur anstelle von Kapital. Ein Jahrhundert lang – in jenem Jahrhundert, in dem sich in dieser Region die neue Nation der Vereinigten Staaten von Amerika herausbildete – wurde die Ideologie genährt, der Preis für den Verbrauch natürlicher Ressourcen tendiere gegen Null und diese natürlichen Ressourcen seien unendlich ersetzbar. Der Begriff »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« beinhaltet die Negation der Maxime der Nachhaltigkeit. Gleichzeitig erfolgte ausgerechnet im Eisenbahnland Nummer eins der Schienenwegebau aus den beschriebenen Gründen auf einem äußerst primitiven Niveau. Da auch Dampfenergie aus Kohle – die es in den USA ausreichend gab – preiswert war und da die auf Kohle und Dampf folgende Energieform der US-Eisenbahnen, Diesel-Kraftstoff, aufgrund großer eigener Ölvorkommen ebenfalls zu niedrigen Preisen genutzt werden konnte, gab es im 20. Jahrhundert kaum einen Stimulus für eine Optimierung des Eisenbahnsystems. Das im 19. Jahrhundert und bis 1910 aufgebaute Eisenbahnstreckennetz, das in seinen Grundzügen sich nicht wesentlich verändert hat, bestand zu einem erheblichen Teil aus viel zu langen – und damit energie- und zeitintensiven – Verbindungen mit gewaltigen Umweg-Verkehren. Zu einer Elektrifizierung kam es nur ausnahmsweise; es gab keinen Sprung in der Energieeffizienz. Damit aber befanden sich die US-amerikanischen Eisenbahnen gerade zu dem Zeitpunkt in einer schwachen Position, als es am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Herausforderung durch die aufkommende neue Transporttechnologie des Pkw- und Lkw-Verkehrs kam.
Die Gründe, die für einen zentralisierten Betrieb, für eine gesamtnationale, wenn nicht für eine supranationale Planung und Organisation des Eisenbahnverkehrs sprechen, sind zahlreich und zwingend. Da ist zunächst die Notwendigkeit eines einheitlichen (nationalen oder supranationalen) Fahrplans. Im Gegensatz zum Individualverkehr existiert beim Schienenverkehr eine kaum auflösbare Einheit zwischen Transportmittel und Verkehrsweg. Wird diese Einheit nicht beachtet, existiert kein Fahrplan für den Verkehr, sind Chaos und Unfälle nicht fern. Nun steht dieses Erfordernis im Schienenverkehr in einem offenen Widerspruch zu einem grundlegenden Prinzip des Kapitalismus: dem der Konkurrenz. Während im »normalen« Kapitalismus eine Produktvielfalt als sinnvoll und für »das Geschäft belebend« angesehen wird, erweist sich diese im Fall des Schienenverkehrs als äußerst unproduktiv. Die Natur der Sache erfordert beispielsweise eine Normierung der Spurbreiten, der Wagentypen und der Loktypen. Ein Schienenverkehr, der bei Existenz konkurrierender privater Unternehmen betrieben wird, tendierte damals (und auch heute!) zu nicht kompatiblen technischen Standards. Doch all diesen zwingenden, für die menschliche Ratio unabweisbaren Erfordernissen wurde nicht Rechnung getragen – jedenfalls ein halbes bis ein Dreivierteljahrhundert lang nicht. Die Eisenbahnen wurden entgegen den sachlichen Notwendigkeiten privat, durch verschiedene, miteinander in Konkurrenz stehende Unternehmen betrieben. Das schloss die Existenz mehrerer, miteinander konkurrierender Eisenbahngesellschaften in einem Land, sogar auf ein und derselben Strecke und zeitweise auf ein und demselben Schienenstrang mit ein.55 Es gab bis Ende des 19. Jahrhunderts auch keine verallgemeinerte Normierung und Standardisierung für die Gleise.56
Vor allem liegt auf der Hand, dass ein Eisenbahnverkehr, sobald er über eine einzelne kurze Verbindung, etwa Nürnberg–Fürth oder Liverpool–Manchester hinausgeht und zu einem nationalen Netz zusammenwächst, eine einheitliche Zeit notwendig macht. Und auch hier versagte die kapitalistisch organisierte Eisenbahn: Mehr als ein halbes Jahrhundert lang gelang eine solche Vereinheitlichung nicht. Hunderte höchst unterschiedliche Bahnen ratterten jahrzehntelang durch eine Landschaft mit dutzenden buntscheckigen Lokalzeiten. Mit dem Eisenbahnverkehr verlieren Landschaften, Orte, Städte und Länder ihr Jetzt in einem ganz konkreten Sinn. Wolfgang Schivelbusch: »Solange sie voneinander isoliert waren, hatten sie ihre individuelle Zeit. Londoner Zeit war vier Minuten früher als die Zeit in Reading, siebeneinhalb Minuten früher als in Circencester, 14 Minuten früher als in Bridgewater. Diese buntscheckige Zeit störte nicht, solange der Verkehr zwischen den Orten so langsam vor sich ging, dass die zeitliche Verschiebung darin gleichsam versickerte. Die zeitliche Verkürzung der Strecken durch die Eisenbahn konfrontiert nun nicht nur die Orte miteinander, sondern ebenso ihre verschiedenen Lokalzeiten. Unter diesen Umständen ist ein überregionaler Fahrplan unmöglich, da Anfahrts- und Abfahrtszeit jeweils nur für den Ort gelten, um dessen Lokalzeit es sich handelt. Für die nächste Station mit ihrer eigenen Zeit gilt diese Zeit schon nicht mehr. Ein geregelter Verkehr erfordert eine Vereinheitlichung der Zeit, ganz analog wie die technische Einheit von Schiene und Wagen den Individualverkehr desavouierte und das Transportmonopol erzwang.«57
Doch selbst die Herstellung einer Einheitszeit ließ sich erst ein halbes Jahrhundert nach Eintritt in das Eisenbahnzeitalter verwirklichen. In England führten in den 1840er-Jahren zunächst die Bahngesellschaften unabhängig voneinander eigene, für die gesamte Linie gültige Zeiten ein. Der Prozess zur Herstellung dieser Einheitszeit einer einzelnen Eisenbahngesellschaft wird für die Gesellschaft Grand Junction wie folgt beschrieben: »Jeden Morgen händigte ein Bote der Admiralität dem diensttuenden Beamten des Postzugs (Irish Mail) von Euston [Kopfbahnhof in London; W. W.] nach Holyhead [Hafenstadt auf der walisischen Insel Anglesey, Irland gegenüberliegend; W. W.] eine Uhr mit der genauen Zeit aus. In Holyhead wurde die Uhr den Beamten der Kingston-Fähre übergeben, die sie nach Dublin brachten. Auf dem Rückweg wurde die Uhr in Euston erneut dem Boten der Admiralität übergeben.«58
Die privaten Eisenbahngesellschaften hatten 1842 ein Railway Clearing House gebildet. Dabei handelte es sich um eine Art Verbindungsbüro, das elementare Fragen des Rechts, der Fahrplanabstimmung und technische Standards abstimmte. Diesem Clearing House gelang es, 1847 eine Einheitszeit auf Basis der Greenwich Mean Time – die bereits im Seeverkehr eine wichtige Rolle spielte – durchzusetzen. Doch auch diese Zeit blieb bloße Bahnzeit; sie hatte weitere drei Jahrzehnte nur Gültigkeit für den Eisenbahnverkehr. Im Alltag blieb es bei den unterschiedlichen Lokalzeiten, die nun jedoch in dem Maß, wie der Eisenbahnverkehr zur vorherrschenden Verkehrsform wurde, in immer kurioserem Widerspruch zur Eisenbahnzeit standen. 1880 wurde dann die Eisenbahnzeit zur allgemeinen Standardzeit in England.
1884 kam es in Washington zu einer internationalen Standardzeit-Konferenz, auf welcher die Welt in vier Zeitzonen eingeteilt wurde. In Deutschland wurden die unterschiedlichen lokalen Zeiten 1893 aufgehoben, und die Zonenzeit offiziell eingeführt.
In den Vereinigten Staaten, wo der Kapitalismus nochmals ungezügelter herrschte, konnten sich die privaten Eisenbahngesellschaften ein halbes Jahrhundert lang nicht auf eine Einheitszeit einigen. Bis 1883 gab es ebenso viele Eisenbahnzeiten wie es große private Bahngesellschaften gab. »An Bahnhöfen, die von verschiedenen Linien benutzt werden, finden sich Uhren mit verschiedenen Zeiten, z. B. in Buffalo drei, in Pittsburgh sechs.« Erst 1883 trat ein im Wesentlichen bis heute gültiges System von vier Zeitzonen in Kraft – erneut als reine Eisenbahnzeit, wenn auch meist auch die Alltagszeit bestimmend. Die allgemeine Standardzeit wurde in den USA erst 1918 gesetzlich vereinbart.
Die enorme Temposteigerung in großen Teilen des Verkehrs, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Eisenbahnen die Gesellschaften in Europa und Nordamerika erreichte, hatte eine ambivalente Wirkung: Einerseits wurden weit entfernte Räume zueinander gebracht. Andererseits wurden regionale Räume entwertet und regionale Strukturen vielfach zerstört. Der Verlust von Nähe oder die »Entwertung« von Nähe und Regionalem dürfte in Europa noch nicht als große Zerstörung wahrgenommen worden sein. Und viele großangelegte Umgestaltungen von Landschaften sind heute verwachsen, teilweise wurden sie auch von der Natur zurückerobert. Die Begriffe Umweltzerstörung und Klimaveränderung spielten noch keine Rolle. Und im Vergleich zu den Eingriffen in Natur und Umwelt, zu denen es im 20. Jahrhundert mit dem Autoverkehr und der Luftfahrt kam, waren der Bau von Eisenbahnen und die ergänzenden Strukturen möglicherweise weniger dramatisch. Wohlgemerkt: Der Flächenverbrauch im Fall des Straßenverkehrs liegt bei mindestens dem Vierfachen im Vergleich zu Schienentransporten.