Tempowahn. Winfried Wolf

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Tempowahn - Winfried Wolf

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des 20. Jahrhunderts begünstigte.

      Der auch heute noch vorherrschende rücksichtlose Umgang mit den natürlichen Ressourcen in den USA hängt eng zusammen mit der Art und Weise, wie sich in Nordamerika die neuen Transportarten Binnenschifffahrt und vor allem Eisenbahnen durchsetzten. Es kommt zu einer spezifischen Ökonomie von »nature for capital«, des Einsatzes von Natur anstelle von Kapital. Ein Jahrhundert lang – in jenem Jahrhundert, in dem sich in dieser Region die neue Nation der Vereinigten Staaten von Amerika herausbildete – wurde die Ideologie genährt, der Preis für den Verbrauch natürlicher Ressourcen tendiere gegen Null und diese natürlichen Ressourcen seien unendlich ersetzbar. Der Begriff »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« beinhaltet die Negation der Maxime der Nachhaltigkeit. Gleichzeitig erfolgte ausgerechnet im Eisenbahnland Nummer eins der Schienenwegebau aus den beschriebenen Gründen auf einem äußerst primitiven Niveau. Da auch Dampfenergie aus Kohle – die es in den USA ausreichend gab – preiswert war und da die auf Kohle und Dampf folgende Energieform der US-Eisenbahnen, Diesel-Kraftstoff, aufgrund großer eigener Ölvorkommen ebenfalls zu niedrigen Preisen genutzt werden konnte, gab es im 20. Jahrhundert kaum einen Stimulus für eine Optimierung des Eisenbahnsystems. Das im 19. Jahrhundert und bis 1910 aufgebaute Eisenbahnstreckennetz, das in seinen Grundzügen sich nicht wesentlich verändert hat, bestand zu einem erheblichen Teil aus viel zu langen – und damit energie- und zeitintensiven – Verbindungen mit gewaltigen Umweg-Verkehren. Zu einer Elektrifizierung kam es nur ausnahmsweise; es gab keinen Sprung in der Energieeffizienz. Damit aber befanden sich die US-amerikanischen Eisenbahnen gerade zu dem Zeitpunkt in einer schwachen Position, als es am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Herausforderung durch die aufkommende neue Transporttechnologie des Pkw- und Lkw-Verkehrs kam.

      Die privaten Eisenbahngesellschaften hatten 1842 ein Railway Clearing House gebildet. Dabei handelte es sich um eine Art Verbindungsbüro, das elementare Fragen des Rechts, der Fahrplanabstimmung und technische Standards abstimmte. Diesem Clearing House gelang es, 1847 eine Einheitszeit auf Basis der Greenwich Mean Time – die bereits im Seeverkehr eine wichtige Rolle spielte – durchzusetzen. Doch auch diese Zeit blieb bloße Bahnzeit; sie hatte weitere drei Jahrzehnte nur Gültigkeit für den Eisenbahnverkehr. Im Alltag blieb es bei den unterschiedlichen Lokalzeiten, die nun jedoch in dem Maß, wie der Eisenbahnverkehr zur vorherrschenden Verkehrsform wurde, in immer kurioserem Widerspruch zur Eisenbahnzeit standen. 1880 wurde dann die Eisenbahnzeit zur allgemeinen Standardzeit in England.

      1884 kam es in Washington zu einer internationalen Standardzeit-Konferenz, auf welcher die Welt in vier Zeitzonen eingeteilt wurde. In Deutschland wurden die unterschiedlichen lokalen Zeiten 1893 aufgehoben, und die Zonenzeit offiziell eingeführt.

      In den Vereinigten Staaten, wo der Kapitalismus nochmals ungezügelter herrschte, konnten sich die privaten Eisenbahngesellschaften ein halbes Jahrhundert lang nicht auf eine Einheitszeit einigen. Bis 1883 gab es ebenso viele Eisenbahnzeiten wie es große private Bahngesellschaften gab. »An Bahnhöfen, die von verschiedenen Linien benutzt werden, finden sich Uhren mit verschiedenen Zeiten, z. B. in Buffalo drei, in Pittsburgh sechs.« Erst 1883 trat ein im Wesentlichen bis heute gültiges System von vier Zeitzonen in Kraft – erneut als reine Eisenbahnzeit, wenn auch meist auch die Alltagszeit bestimmend. Die allgemeine Standardzeit wurde in den USA erst 1918 gesetzlich vereinbart.

      Die enorme Temposteigerung in großen Teilen des Verkehrs, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Eisenbahnen die Gesellschaften in Europa und Nordamerika erreichte, hatte eine ambivalente Wirkung: Einerseits wurden weit entfernte Räume zueinander gebracht. Andererseits wurden regionale Räume entwertet und regionale Strukturen vielfach zerstört. Der Verlust von Nähe oder die »Entwertung« von Nähe und Regionalem dürfte in Europa noch nicht als große Zerstörung wahrgenommen worden sein. Und viele großangelegte Umgestaltungen von Landschaften sind heute verwachsen, teilweise wurden sie auch von der Natur zurückerobert. Die Begriffe Umweltzerstörung und Klimaveränderung spielten noch keine Rolle. Und im Vergleich zu den Eingriffen in Natur und Umwelt, zu denen es im 20. Jahrhundert mit dem Autoverkehr und der Luftfahrt kam, waren der Bau von Eisenbahnen und die ergänzenden Strukturen möglicherweise weniger dramatisch. Wohlgemerkt: Der Flächenverbrauch im Fall des Straßenverkehrs liegt bei mindestens dem Vierfachen im Vergleich zu Schienentransporten.

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