Tempowahn. Winfried Wolf

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Tempowahn - Winfried Wolf

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Victor Hugo hat die veränderten Wahrnehmungsformen bei hoher Eisenbahngeschwindigkeit literarisch wie folgt auf den Punkt gebracht:

      Interessanterweise sah der bereits kurz angeführte deutsche Dichter Heinrich Heine die Veränderung, die das Eisenbahnzeitalter mit sich brachte, in einem weit größeren Zusammenhang. Und er tat dies in einer ausführlichen Betrachtung, aus der wohl das folgende – wie wir sehen werden: aus dem Zusammenhang gerissene – Zitat allgemein bekannt ist: »Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.«

      Dieses Zitat wird allerdings immer in der Form, wie hier wiedergegeben, ohne die eigentlich erforderlichen Auslassungszeichen zwischen den beiden Sätzen, angeführt. Und genau dies ist falsch, ja eigentlich eine Fälschung. Das vollständige Zitat macht einen hoch politischen und weiterhin aktuellen Text daraus. Im Original heißt die komplette Passage wie folgt:

      Bereits bei Einfügung des ausgelassenen Satzes wird klar, dass weit mehr hinter dieser Betrachtung steckt. Das gilt vor allem dann, wenn Heines Überlegungen in dem betreffenden Artikel als Ganze gewürdigt werden. Er stellt dabei zunächst die Niederungen der französischen Politik im Jahr 1843 dar, in denen »die Gegner des Zuckerrohrs« und die »Freunde der Runkelrübe« sich absurde Debatten liefern, so wie man in Deutschland »einst für die deutsche Eiche und den Eichelkaffee« geschwärmt habe. Tatsächlich befände man sich an einer Zeitenwende, in der »die Zeit rasch vorwärts (rollt), unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen«. Dies erkennt Heine vor dem Hintergrund der Inbetriebnahme der »beiden neuen Eisenbahnen, wovon eine nach Orléans, die andere nach Rouen führt«. Und dann beschreibt Heine in wunderbaren Worten das Neue, Aufbrechende wie folgt:

      Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem anderen den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, dass unsere ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muss unseren Vätern zumute gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebögen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providencielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt. [...] Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte und unsere Generation darf sich rühmen, dabei gewesen zu sein. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden.

      Wobei hier erst – im Folgenden in Heines Text – das bereits ausgeführte Zitat folgt.

      44 Tatsächlich fuhr bereits im Februar 1804 ein erster mit Dampfkraft betriebener Eisenbahnzug auf der Hüttenwerksbahn der Firma Merthyr Tydfil in Südwales. Erfinder und Erbauer war Richard Trevithick. Die Erprobung der Eisenbahn erfolgte öffentlich, beladen mit 10 Tonnen Eisen und achtzig Passagieren an Bord. Die Fahrt wurde in den Zeitungen begeistert gefeiert. Es gibt also kaum einen Grund, diese Rekordfahrt klein zu reden und Stevensons 22 Jahre später realisiertem Projekt den Vorzug zu geben. Ausführlich bei: W. Wolf, Eisenbahn und Autowahn, a. a. O., 1992, S. 24 und derselbe, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, a. a. O., 1992, S. 31ff.

      45 Angaben nach: Ralf Roman Rossberg, Geschichte der Eisenbahn, Künzelsau 1977, S. 89 u. 151.

      46 Er argumentierte dabei wie folgt: »Die deutschen Eisenbahnen haben bis zum Schluß des Jahres 1910 rund 17 Milliarden Mark gekostet. Rechnen wir davon auf Arbeitslohn nur drei Viertel, so ergäbe das einen Betrag von zwölf bis dreizehn Milliarden Mark. Nehmen wir einen Jahresverdienst von fünf- bis sechshundert Mark im Durchschnitt an (was sehr hoch gegriffen ist …), so würden wir auf eine Arbeitsleistung von rund 25 Millionen Arbeitsjahren oder etwa 7 ½ Milliarden Arbeitstagen kommen. Es hätte also eine Million Arbeitssklaven 25 Jahre lang, 100000 Sklaven hätten zwei und ein halbes Jahrhundert lang zu bauen gehabt. Auf die geschichtliche Zeit berechnet: …!« Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 240f.

      47 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 242.

      48 Gerald Sammet, Das Klassensystem der Beweglichkeit, in: Sonderbeilage der Nürnberger Nachrichten vom 10. 5. 1985.

      49 Friedrich List im Staatslexikon von Rotteck Welcker, erschienen 1837. Wiedergegeben in der Einleitung zu Lists maßgeblicher Schrift: Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-System, Leipzig o. J., S. 10. (Erstveröffentlichung 1833). Die DDR-Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« Dresden hatte sich der Wahrung und Weiterentwicklung des Erbes dieses Theoretikers und Praktikers des Schienenverkehrs verschrieben. Der Autor dieses Buches erhielt im Dezember 1989 von dieser Hochschule die (wohl letzte) »Friedrich-List-Ehrung der

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