Und die Titanic fährt doch. Ulrich Land
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»Batman ist mein Name, wenn‘s recht ist.«
Lass mich einfach in Ruhe, ich hab‘ zu tun, muss mich ranhalten! – Du könntest mal mit anpacken, dämliches Hirngespinst, aber dafür bist du ja nicht zu gebrauchen. ›Power ohne Ende‹, dass ich nicht lache.
Das gibt‘s doch nicht, was ist denn das für ‘n Holz? Mein Gott, ist doch alles nagelneu, müsste doch eigentlich … tut mir den Gefallen aber nicht. Ist die Schubladenlatte offenbar doch nicht als verlängerte Fensterklinke gedacht. Aber zwei, zwei von der Sorte! Zwei Latten parallel neben den Knauf legen und dann festknoten, hätte man Hebelwirkung genug. Sind zwar kürzer, die beiden Seitenlatten, aber dafür ja dann doppelt. – Jau, siehste! Man muss nur erfinderisch … meine Güte, ist die Luft kalt. Wunderbare Meeresluft, aber saukalt. Jetzt hör auf zu palavern! Das Fendertau – verdammt noch mal, wieso ist das so weit auf Abstand? War doch eben höchstens ein Meter oder zwei! Der, der wird größer, der Abstand, die legt grade ab – dieser Scheiß-Batman hat‘s doch geschafft, mich auszubremsen –, die Olympic legt ab. Hat schon abgelegt.
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4
Unsere Turbine läuft. Läuft wacker. Unüberhörbar. Wir tuckern elend langsam, aber tuckern vorwärts. Sechs Knoten, schätze ich mal. Etwas mehr als ein Viertel der Dienstgeschwindigkeit. Na ja, immerhin. Dann, warte, ja, dann dürften wir New York in sechs, eher sieben Tagen erreichen.
Glutrote Wolkenbänder am Abendhimmel, orangefarbene Hochnebellaken ausgelegt zum Bleichen, Federn aus einem geplatzten Wolkenkissen haben sich planmäßig verteilt und sind zur Ruhe gekommen. Hier und da taumeln immer noch ein paar versprengte Eisbrocken im Wasser, warten träge auf ihr trauriges Ende. Ein breit auseinandergezogenes Trümmerfeld aus zerschlagenen Eisschollen. Verschnitt- und Versatzstücke in allen Größen und allen Weiß-türkis-grau-Schattierungen heben sich nur undeutlich vom grünen Wasser ab, das ansonsten immer noch wie mit einem Abzieher glattgezogen daliegt und dort, wo es nicht von Eiskadavern gestört wird, das selbstvergessene Farbenspiel der Dämmerung verdoppelt. Stille meilenweit. Jetzt schon seit Tagen. Fragt sich, wo sind die Nordmeerstürme hin? Das Wellengetöse, die Wolkentürme? Brauen die, zurückgezogen in irgendeine Teufelsküche, das nächste mordsgefährliche Süppchen zusammen?
In Thule? Das muss doch irgendwo hier sein, da, noch ein Stück weiter den Globus aufwärts. Hinterm Horizont, wo das Brucheis immer dichter wird, wo schmutzigweiße Fladen und Scheiben von Rissen durchzogen eine gellende Nänie anstimmen, wo kreuz und quer verkantete Restklötze sich aufrichten zu Grabsteinen. Im traurigen Gedenken an die todgeweihten Eiskälber, die sich soeben gen Süden auf den Weg machen zu ihrem eigenen Verzehren und Verderben. Hier, wo mit Sicherheit, mit ziemlicher Sicherheit auch der Eisberg herstammt, der unserm Kahn ans Fell gegangen ist. Gekalbt von einer, was weiß ich, 80 Meter hohen Gletscherwand. Hat garantiert drei Jahre gebraucht, der Eisblock, um sich bis in die gottverdammten Gewässer treiben zu lassen, wo er uns dann an den Kragen gegangen ist. Hat sich also losgerissen und auf die Reise gemacht, als die drüben in Belfast bei Harland & Wolff grade mit dem Bau der Titanic angefangen haben. Aber 15.000 Jahre vorher ist er Eis geworden, der Bursche. Hoch oben, irgendwo auf dem grönländischen Buckel. Und hat sich als zäher Eisstrom allmählich, ganz allmählich abwärts geschoben zur Westküste. Durchzogen von einem Labyrinth aus sommerlichen Schmelzrissen, das die spätere Form von unserm Eistrümmerklotz schon vor Jahrtausenden vorgezeichnet hat. Und also, 14.997 Jahre später, kommt er an in Thule, bricht aus seiner Gletscherfront und lässt sich ins Wasser plumpsen. Kracht da in diesen zerklüfteten Friedhof mit offen liegenden Eisskeletten, halsbrecherischen Stapeln weißer Särge, ungeordneten Reihen baufälliger Marmormausoleen. Wo auf allem diese undurchdringbare Grabesstille lastet.
Allmählich verliert das Licht sein Orange. Nur noch ein Schimmer im Westen, dort wo Amerika uns erwartet: das Schiff und die letzten Aufrechten, die die Stellung auf den morbiden Planken halten. Jetzt versickert auch der westliche Lichtstreifen. Das Nachtschwarz fängt an, seinen bleischweren Mantel auszubreiten, während dieser schleunigst schon mal die ersten gelb leuchtenden Knöpfe aufblitzen lässt und, so weich er fällt, doch eine düstre Ahnung davon an den Horizont malt, wozu er fähig ist, wenn man ihn nur machen lässt. Aber niemand will den Mantel der Nacht in Wallung versetzen. Noch nicht. Die vielbeschworene Ruhe vor dem Sturm? Der verschüchterte Mond jedenfalls zeigt sich immer noch nicht. Nicht als noch so dünne Sichel. Obwohl das Himmelsschwarz glasklar ist. Keine Dunstflecken vor den Sternen, die Nebelbänke verflogen, die Wolkenschafe im Stall. Oder? Oder da, huschen da nicht doch feine schwarze Tücher dem Firmament übers Anthrazitantlitz, wirbeln da nicht finstre Flecken einen röchelnden Totentanz durch die Lüfte?
»Position: 67°27‘ Nord, 50°14‘ West«, verzeichnet Phillips mit ausgetrocknetem Füller – in den hundert langen Unterseejahren kein Wunder – mit kratztrockenem Füller im Logbuch, »Strömungsverhältnisse: anhaltende Norddrift. Prognose: Zielposition unterm Nordpol kann in wenigen Tagen erreicht sein.«
»Eine von denen hier, genauso eine«, Madame Godot hat den kleinen Finger wie üblich abgespreizt, während sie sich das dünne Porzellangebilde vor Augen führt, »war jedenfalls eine Mokkatasse. Und die kam damals auf halbem Weg zum Mund plötzlich nicht mehr weiter. Wie in der Luft festgeklebt. Grauenhaft. Die Hand mit der Mokkatasse. War plötzlich ...«
Das lange Laster mit den spitzen Ohren legt ihr irgendwie väterlich den Arm um die Schultern: »Angy, hörn Sie auf zu jammern. Ich bin hier. Batman, Herr der Dunkelheit, Herold des Guten hinterm Schatten, Arm der Titanen. Batman forever! – Pow! Und nun lassen Sie die Vergangenheit und die beschissene Mokkatasse ruhen!«
So ganz dämlich ist der nicht, dieser Batman, muss man zugeben. Scheint begriffen zu haben, dass die Erinnerung nur dann weiterbringt, wenn sie sich auf die Kunst des Vergessens versteht. Komplettes Aufbewahren, totales Konservieren, ständiges Abrufen der Erinnerungen ist ein Akt von Grausamkeit. Vergessen dagegen eine Sache der Würde. Aber Würde hin, Würde her, das Vergessen huscht nie nach hinten weg, ohne Spuren zu hinterlassen. Immer bleibt irgendwo irgendwas. Grausam, wie gesagt, grausam und unnachgiebig.
Damit jedenfalls, dass er des Mokkatassenklagelieds überdrüssig ist, steht der untote Fledermaustitan an Bord meines blauen Zukunfts-U-Bootes keineswegs alleine da. Selbst aus dem Totengräber – ansonsten ausgestattet mit dem Gemüt eines Schaukelpferds – bricht es heraus: »Hätten Sie nicht einmal in all den Jahren, muss einen ja wahnsinnig machen, hätten Sie in all den Jahren dies Mokkatässchen nicht mal irgendwo abstellen können! Stehn lassen. Vergessen. – Jeden Morgen als erstes dies verfluchte Gerappel. Das dröhnende Geklimper von dieser ...«
Womit er allerdings der von ihrer eigenen Gemütsverfassung aufgescheuchten Madame Godot bloß ein dankbares Stichwort geliefert hätte: »Ich meine, das Klirren kennt man ja, dies leise Klirren, wie die Tassen tanzen auf ihren Untertassen, um Bruchteile von Millimetern, ständiger Wegbegleiter auf einer Dampferreise, kennt man ja«, murmelt sie selbstvergessen und stiert auf den auch nach all den Jahren immer noch glitzernden Goldrand des Tässchens in ihrer Hand, »aber wie dieses Klirren plötzlich, urplötzlich anschwoll, ausartete zu rasendem Lärm! Und genau dieses Getöse war … war der erste Ruf von unten aus der Tiefe.«
»Aber trotzdem, Madame«, Russel ballt die rechte Faust und lässt sie doch auf halbem Weg Richtung Tischplatte in der Luft hängen, »noch lange kein Grund, dieses brüllende Klirren die ganze Zeit mit sich rumzutragen, hundert Jahre. Womöglich ein ganzes Jahrhundert. Mittlerweile. Wenn Phillips Zeitschätzung stimmt.«
»Ich übernehme keine Garantie.«
»Meine Güte, Mme Godot, hören Sie endlich auf, auf Ihren Gatten zu warten! Sie können ihm mit keiner noch so klanggewaltigen Mokkatasse ein Lebenszeichen rübermorsen, so leid‘s mir tut. – Eine Bibel,