Der Televisionär. Группа авторов
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»Mein Grundkonzept war: weg von Auschwitz und Juden und Nicht-Juden. Ich wollte eine Liebesgeschichte machen. Meine Helden sind Leute, die überhaupt nicht wahrnehmen, was sich da ereignet, nur zwei, drei Mal bricht die Politik herein. Mir geht es darum, dass immer gesagt wird: die Nazis! Und ich will zeigen, dass es die ganz normalen Leute gewesen sind. Und dass die es heute noch sind.«77
Für den Zweiteiler Reichshauptstadt privat – und die dazugehörigen vier Folgen Sittenspiegel – recherchierten der Autor und sein Redakteur-Regisseur Horst Königstein bei noch lebenden Zeitzeugen:
»›Wir waren Ethnologen, Sammler der letzten Stimmen‹, sagt [...] Königstein über die Besuche des Fernsehteams bei unzähligen Zeitzeugen. ›Wir haben diesen ausgemergelten, einsamen Menschen zugehört, sie haben uns ihre abgegriffenen Alben gezeigt, ihre Ikonen der Vergangenheit. Und immer wieder sagten die Leute Sätze wie ›Ja, es war schlimm, und ich weiß, daß wir mitschuldig waren. Aber meine guten Erinnerungen lasse ich mir nicht nehmen!‹«78
Wer Reichshauptstadt privat damals sah, erlebte die Darstellung einer Generation von Vergesslichen auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ein Protokoll ihres vergeblichen Erinnerns. Gerade in der virtuosen Handhabung der semi-dokumentarischen Form demonstrierten Menge und Königstein die Unmöglichkeit der angestrebten ›Vergegenwärtigung‹. Den Geschichtsverlust, den das Fernsehspiel überwinden wollte, führte es treffend vor, mit Szenen und Sätzen, die man als Nachgeborener nicht so schnell vergessen konnte. Das private Leben ›unter Hitler‹ jedoch blieb unvorstellbar – und sei es selbst, wie im Falle der Helden Anna und Kurt, das eigene gewesen:
»Die Perspektive, aus der die Handlung erzählt wird, ist die der Deutschen, die heute um die sechzig sind. Statistisch gesehen waren sie in ihrer Kindheit Hitlerjungen und BDM-Mädchen, in ihrer Jugend Flakhelfer, Landser, Kriegsbräute und Teenie-Kriegerwitwen. Mit der angeblichen ›Stunde Null‹ hat ihr zweites Leben begonnen. Sie mussten vergessen, was bis dato als gut und richtig galt und nicht zu retten war. Und sie haben es, wiederum statistisch gesehen, wildentschlossen getan, sie haben neuangefangen, aufgebaut, Karriere gemacht und wurden wieder wer. [...] Nun allmählich werden sie Großmütter und Großväter und geben die Macht an Jüngere ab. Zeit, sich zu erinnern und Rechenschaft über das eigene Leben abzulegen. Solche Selbstreflexion an der Schwelle zum Alter aber wird den Angehörigen dieser Generation erschwert durch den Umstand, daß ja die Basis des Identitätsverlustes und des Aufbaus der neuen, bundesdeutschen Identität gerade das Vergessenwollen war.«79
Menges nächstes und letztes großes historisches Projekt schloss sich zeitlich recht nahtlos an: Der zweiteilige Fernsehfilm Ende der Unschuld80 beginnt in Großbritannien an dem Augusttag 1945, als in Hiroshima die erste Atombombe fällt, und rekonstruiert, wie es dazu kam, dass den in Farm Hall internierten Pionieren der deutschen Atomphysik – vor allem dem Entdecker der Kernspaltung Otto Hahn und seinem Nobelpreis-Kollegen Werner Heisenberg – der Bau einer solchen Bombe nicht gelungen war. Wieder recherchierte Menge akribisch. Unter anderem
»entdeckte er Briefe von Lise Meitner im Archiv der FU Berlin. Damals kam ein Professor an seinen Tisch, nur um sich den Mann anzusehen, der die Briefe lesen wollte, für die sich zuvor niemand interessiert hatte.«81
Als Autor ging es ihm wesentlich darum, einen wichtigen, aber damals – 1987, als er mit der Arbeit begann – nicht unbedingt aktuellen Stoff zu gestalten:
»Die Frage nach dem Nerv der Zeit: Da muss ich sagen, es gibt auch Zeiten, deren Nerv mich einfach nicht interessiert. [... D]ann erhole ich mich eben eine Weile vom Zeitgeist mit Dingen, die immer wichtig, aber nie so in sein werden – wie etwa jetzt mit meinem Zweiteiler über die deutschen Atomphysiker in den dreißiger und vierziger Jahren.«82
Das zweiteilige Fernsehspiel, inszeniert von dem Ex-Defa-Regisseur Frank Beyer und im April 1991 ausgestrahlt, nannte Der Spiegel »Gewissensforschung mit der Kamera«.83 Michael Schwelien lobte in Die Zeit, Ende der Unschuld sei »das Spannendste, was der Sender seit Jahren produziert hat.«84 Von der Kritik positiv aufgenommen und für zahlreiche Preise nominiert, u.a. den International Emmy Award, fand das Fernsehspiel unter den Bedingungen der analogen Disruption jedoch kaum noch Zuschauer. Für Wolfgang Menge, seit Stahlnetz auf Massenerfolge abonniert, war das eine ungewohnte Erfahrung.85 Sie läutete seinen Abschied von historischen Stoffen ein.86
1 Einer wird gewinnen (D-ARD, 1964-1969).
2 Vergissmeinnicht (D-ZDF, 1964-1970).
3 Der Goldene Schuss (D-ZDF, 1964-1970).
4 Wünsch Dir was (D-ZDF, 1969-1972).
5 Dalli Dalli (D-ZDF, 1971-1986).
6 Vgl. dazu Ruchatz, Jens: »Komplexes Fernsehen 1974. Die Liveness der Talkshow III nach 9«, in diesem Band S. 377-410, hier S. 378.
7 K. Kastan: »Wolfgang Menge im Gespräch«.
8 W. Menge: Bremen, 25. Juni 1987.
9 H. Janke: »Unruhe stiften, aber unterhaltsam«.
10 W. Menge: Bremen, 25. Juni 1987.
11 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987.
12 Ebd. – Walter Jens schrieb unter dem Pseudonym Momos Fernsehkritiken für Die Zeit.
13 Je später der Abend (D-WDR/ARD, 1973-1978).
14 W. Menge: Sylt, 21. Juni 1987.
15 III nach 9 (D-RB, seit 1974).
16 S. Münker: »Subversion durch Transparenz«, S. 360.
17 Menge, Wolfgang: »›... weil das Risiko Spaß macht‹«, in: Jörg, Sabine (Hg.), Spaß für Millionen: Wie unterhält uns das Fernsehen?, Berlin: Spiess 1982, S. 117-129, S. 129. Der Beitrag findet sich in diesem Band S. 556-575, hier S. 575.
18 J. Ruchatz: »Komplexes Fernsehen 1974«, S. 403.
19 Vgl. in diesem Band S. Münker: »Subversion durch Transparenz«,