Die Poesie des Biers 2. Jürgen Roth
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»Im Dampfkessel«, sagt J., »sind auch Boxer verkehrt. Ebby Thust war da. Im Keller war ein Trainingsraum eingerichtet. Da konntest du dir die Fresse polieren lassen, wenn du genug gesoffen hattest.«
Jetzt sagt der Wirt meiner Stammkneipe doch was – zum Dampfkessel: »Vom obersten Professor bis zum letzten Penner war jeder drin. Da hatte jeder Kultur in dieser Zeit, ’76, ’78, achtziger Jahre. Huren ohne Ende, Lesben, alles drin. Wenn du müde warst, hast du hinten im Kabuff geschlafen. Morgens hieß es: ›Bitte leise! Da hinten schlafen ein paar Leute.‹ In dieser Zeit, das waren gute Leute, nicht das heutige System.«
Auf meinem Notizzettel steht übers Moseleck: »Rustikalität und Rabaukentum«. Es läuft »Tutti Frutti« von Little Richard. Der Wirt schlägt im Hamsterrad der Befüllung beinahe Salti. Geräuschforscher könnten ergiebiges Material sammeln – und Gesichtsforscher, die sich die Blicke jener am Alterungsanstieg befindlichen Frauen einprägten, die am Tresen den Kopf übers kleine Pils senken und irgendwohin schauen, wahrscheinlich in sich hinein, wo man nichts oder das Immergleiche sieht.
J. sagt: »Das waren bessere Zeiten. Wir waren eine Clique von Autohändlern und Gastronomen. Wir haben gute Geschäfte gemacht, da galt der Handschlag. Es waren gute Zeiten.«
Ich denke: Im Moseleck findet das, was in jeder Trabantensiedlung und in jedem Kaff in diesem Land jeden Tag stattfindet, wenigstens öffentlich statt. Ohne Scham. Und deshalb – schöner?
Markus, um die zwanzig, schätze ich, sagt in meiner Stammkneipe im Gallusviertel: »Heute saufen sich im Moseleck die Eintracht-Fans einen an.«
»Asbach Uralt 2 cl 2,–; Remy Martin 2 cl 2,50; Wodka Moskovskaya 2 cl 2,–; Bacardi-Rum 2 cl 2,–; Jägermeister 2 cl 2,–; Fernet-Branca 2 cl 2,–; Fernet-Menta 2 cl 2,–; Underberg 2 cl 2,–; Kümmerling 2 cl 2,–; Campari Soda 2 cl 2,50; Martini Bianco 2 cl 2,50; Martini Rosso 2 cl 2,50; Korn 2 cl 2,–; Doornkaat 2 cl 2,–; Johnnie Walker 2 cl 3,–; Chivas 2 cl 4,–; Jim Beam 2 cl 3,–; Jack Daniels 2 cl 4,–.«
Die rote Schlange von Izmir
Das ist es: nur noch dasitzen, den ganzen Tag, und schauen – auf die Blumenpracht rund um die Veranda, mitten im Oktober; auf die gelbbraunen, kegel-, sack- und quaderförmigen Gneis- und Granitassemblagen des Beşparmak Dağları, des Fünffingergebirges, das sich in das Dorf Kapıkırı hineinschiebt, eine unsortierte Häuseransammlung im Südwesten der Türkei zwischen den Ruinen des ehemaligen Herakleia, das zum Königreich Karien gehörte und wo man heute die Pension Kaya findet. Ich zögere, das preiszugeben. Es könnten sich ein paar der unzähligen Kretins auf diesem geschundenen Planeten dazu animiert fühlen, dieses Paradies heimzusuchen. Bleibt weg. Tut mir und Güray den Gefallen.
Oder das: auf den Bafasee zu Füßen der Terrasse stieren, ziellos und wie weggeweht, aufs smaragdblau glitzernde Wasser, auf Seidenreiher, Kormorane, Pelikane, Flamingos, die durch die weiche Luft streichen und sich was von einer Welt nach den Menschen erzählen; und dabei, sagen wir: um zwölf, nach einem Frühstück mit Schafskäse, Rührei, Tomaten, Gurken, Oliven und Weißbrot, das erste kühle Efes öffnen und leicht wie der milde Wind in sich hineinlaufen lassen.
»Ohne Bier ist es ein bißchen langweilig«, sagt Güray, der die Pension führt. »Hier ist ein Ort, oder? Keine Musik. Nur Esel, nur Kuh, nur Vögel. Kein Flugzeug.«
Oder den Blick hinaufrichten – zum Fünffingergebirge, das früher Latmosgebirge hieß, zu den gezackten Linien und den mächtigen braungrünen Gesteinsauffaltungen. Jenseits des Gipfels, erzählt Güray, wissen die Leute nicht, was Oliven sind. Da kennen sie bloß Pinien, und hier im Dorf seien er und sein Bruder Mehmet die einzigen, die jemals mit den Menschen auf der anderen Seite des Bergmassivs gesprochen hätten, von dem der antike Geschichtsschreiber und Geograph Strabon behauptet, es werde in der Ilias als »Pinienberg« erwähnt.
Und nachts, halbvoll wie ein Däne, dem Steinkauz lauschen, bis am nächsten Morgen der Esel röhrt, wehklagt und weint.
Güray ißt ausschließlich Gemüse und Zigaretten. Genauer: Ich habe ihn noch nie etwas essen sehen – außer Zigaretten. Er ist strichdünn, flink und gewandt wie eine Bergziege, hat Arbeiterhände und ein von tiefen Furchen und Lachfalten durchzogenes Gesicht. Güray gehört zu den zehn freundlichsten, gutmütigsten Menschen der Welt.
Oder das wär’s: zwei Wochen lang jeden Tag zu den Zwillingsinseln im Bafasee rausfahren, am Kieselstrand zehn Flaschen Bier in der Sonne trinken und zurückkuttern, um mit Güray zu plaudern.
Güray nimmt einen Schluck Rakı, nervenkräftigende Löwenmilch, wie man in der Türkei den Anisschnaps nennt. »Ich habe die Ohren auf den See und die Augen auf die Berge gerichtet. Was willst du in der Stadt? Hier hast du Gurken, Tomaten, Fisch, ein Haus und Natur – alles umsonst. Aber die Menschen haben immer Angst, sie haben Angst vor allem. Hier haben sie Angst vor dem See, vor dem Berg, davor, etwas in der Stadt zu verpassen. Wie kann man vor der Natur Angst haben?«
Vor vielen Jahren habe er, der Familie seiner ersten Frau zuliebe, versucht, in die Moschee zu gehen. Nach dem vierten Mal bat ihn der Imam, nicht mehr wiederzukommen. Güray hatte über die Betrituale und das Drumherum ständig lachen müssen – und sei’s über die Löcher in den Socken der todernsten Männer. »Kein’ Chance! Ich immer lachen!« wiederholt er. Er lacht und beschreibt, wie die Kirche den Leuten das Geld raubt.
Herr Erdoğan, der mit Inbrunst Tausende von liberalen Journalisten verfolgen und nach Gusto in den Karzer werfen läßt, wird das ungern vernehmen. Die Islamisierung schreitet unter der Regentschaft seiner Partei, der AKP, zügig voran. Saudi-arabische Imame dürfen jetzt in Schulen unterrichten, Bier, Wein und Rakı werden immer teurer, an Universitäten gilt seit August totales Alkoholverbot.
Güray ist ungehalten. »Alles wollen sie uns verbieten: das Rauchen, das Trinken, an keinen Gott zu glauben. Verbote, Verbote, Verbote.« Mit Begeisterung lesen wir dieser Tage auch, daß der türkische Pianist Fazil Say wegen der »öffentlichen Erniedrigung religiöser Werte« vor Gericht gezerrt wird, weil er sich u. a. über die Bigotterie der Gläubigen lustig gemacht hat, die Wasser predigen und Rakı trinken.
In Milas, etwa vierzig Kilometer südlich von Kapıkırı, hält die laizistisch-sozialdemokratische CHP am Marktplatz eine Versammlung ab. Die Provinz Muğla ist eine der letzten kemalistisch dominierten Regionen. Das würdigen wir mit vier Tuborg und danach mit drei weiteren – in der Altstadtkneipe Can Lokantasi, in der wir uns mit den großartig ausgelassenen Stammgästen mangels reziproker Sprachkenntnisse anderthalb Stunden lang ausschließlich vermöge der Wortfolge »Jupp Derwall« verständigen und verbrüdern.
Die Laune verhagelt es uns eine Woche später. Im Flughafen Izmir Adnan Menderes kosten 0,33 Liter Bier sechs Euro fünfzig, Rauchen ist unter Androhung drakonischer Geldstrafen überall strengstens verboten. Atatürk hätte den Laden vom Militär besetzen lassen.
Wir beugen uns dem Tugendwahn allerdings nicht. An Gate 233 fahren wir mit der Rolltreppe nach unten. In einer Ecke unterhalb der Rolltreppe entdecken wir eine Werbewand der Flughafenbetreibergesellschaft. Die soll uns als Paravent vor den Unbilden dieser merkwürdigen Welt schützen, als klandestine Rauchermauer.
Als meine Begleiterin und ich die Wand vorsichtig anheben und wegziehen, um hinter sie schlüpfen zu können, wird ein etwa dreißig Zentimeter breites und einen Meter hohes Loch in einer Rigipswand sichtbar. Es scheint erst kürzlich ausgesägt worden zu sein, warum auch immer. Späne liegen auf dem Marmor- und dem schwarzen Teppichboden im speisekammergroßen, dunklen Verschlag herum, in den