Die Poesie des Biers. Jürgen Roth
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England, o England, Eeeengland! sang das Zelt, das Zelt kochte, das Zelt brodelte, das Zelt schäumte. Chöre schwollen an und ab, in einem endlosen Getöse brüllten und bellten und grölten die Männer von der Insel. Gesangswogen brandeten heran, Brecher schlugen über unseren Köpfen zusammen, Becher flogen hinterdrein. Fuck you! Fuck you! spießte das Zelt jeden Spieler des Gegners auf, der sich zu wehren versuchte.
Herr Suppa zog seine Schirmmütze noch tiefer ins Gesicht, mein Bruder kauerte auf der Bank. Ich stand auf und wollte mich erleichtern, da prasselten Verwünschungen und Flüche auf mich ein, auf einen, der es gewagt hatte, sich in voller Größe zu zeigen, Asshole! Son of a bitch! Fuck you! Piss off! und diese Dinge. Ich fürchtete um mein Leben, ganz ernsthaft fürchtete ich um mein kleines Leben. Es war die Entfesselung des Allerfürchterlichsten. Wir waren umzingelt von dem entsetzlichsten Mob, von einem zu allem bereiten Pöbel, von einem gefräßigen Monstrum an Brutalität und Barbarei.
Ich setzte mich wieder, und ein Beifallssturm begleitete diese Bewegung, ein Zeichen der infamen Berauschung an der eigenen Macht, an der Stärke und am Bedrohungspotential, das der Engländer, dieser exzentrische Mensch par excellence, so auskostete. Nicht noch eins, nicht noch eins, wisperte mein Bruder, ich hörte gar nicht mehr richtig hin. Wir waren in die schlimmste Enge getrieben, real, körperlich, und wir waren in der beklemmendsten Bewußtseinsenge, nämlich Angst, gefangen.
Ich entschloß mich, wenn man hier noch von einem Entschluß reden kann, unter diesen Bedingungen, in dieser Hölle, in diesem dampfenden, bollernden, spritzenden, spuckenden, geifernden Glutofen des Wahns, ich entschloß mich zur Flucht. Es war die 66. Minute, das 1:4 durch Owen war gefallen, ich sammelte die letzten Kräfte, klaubte die letzten Krümel Mut zusammen, erhob mich und hechtete zur Seite, erreichte kriechend die Zeltplane, hob sie an, so gut es ging, Becher flogen und vielleicht Kieselsteine vom Boden, auf dem dieses Zelt der Zerberusse, der Höllenhunde, errichtet worden war, und quetschte mich wälzend und zitternd durch den engen Spalt, während, wie ich noch aus dem Augenwinkel erkennen konnte, die hinteren Spaliere in noch bedrohlichere Bewegung gerieten und begannen, sich nach vorne zu schieben.
Es war mein Heysel. Es war nicht nur mein Heysel, es war auch mein Córdoba. Es war mein Heysel-Córdoba, mein Córdoba-Heysel, könnte man sagen. Ich hörte, schnaufend und tief durchatmend, die englischen Fans schreien und jubeln. Durch die Zeltplane zeichneten sie sich schemenhaft ab, die Verbände und Berge der feiernden und zechenden und zum Äußersten neigenden Engländer.
Ich war entkommen, knapp entkommen. Ich mußte Herrn Suppa und meinen Bruder ihrem Schicksal überlassen und floh. Ich floh die Wiese hinauf, hetzte vorbei an verwüsteten holländischen Zeltburgen und erreichte mein eigenes Zelt, in das ich mich sofort hineinlegte, um augenblicklich einzuschlafen, alles zu vergessen und nicht entdeckt werden zu können.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es ungewöhnlich und zauberhaft still auf dieser Wiese in den Ardennen. Ich zog meine Schuhe an, streifte meine Jacke über und ging hinunter auf die Hauptstraße von Spa-Francorchamps. Die Planen des Fernsehzeltes waren zugezogen und fest verzurrt. Ich ließ das Fernsehzelt links liegen und lief weiter, bis zu einem Frühstückszelt, in dem ich ein gutes belgisches Frühstück zu mir nahm.
Neben dem Büfett lagen auf einem Tisch belgische, deutsche und englische Sonntagszeitungen aus. Ich hatte früher immer mal wieder davon gehört und darüber etwas gelesen, daß es eine Tatsache sei, daß viele, ja die meisten Engländer beim Anblick eines Deutschen zuerst an Krieg und Fußball denken müßten, daß die Engländer beim Anblick eines Deutschen zuerst an Adolf Hitler dächten und dann, beim Thema Fußball, sofort auch an Krieg dächten, denken müßten. Engländer könnten gar nicht anders, als Fußball und Krieg zusammenzudenken, sobald es um Fußball und einen Deutschen oder Deutschland gehe. Beim Fußball, so dachte ich kurz, mich dieser Einschätzungen entsinnend, versteht der Engländer keinen Spaß.
Das war nur so ein Gedanke, ein kurzer Gedanke. Ich nahm mir die Sonntagszeitungen. Ich rührte in meinem Kaffee, einem sehr guten belgischen Kaffee, herum und warf einen kurzen Blick auf die Mail on Sunday, wobei mir in den Sinn kam, daß für einen Engländer, für die allermeisten Engländer, eine Fußballpartie England gegen Deutschland schon 1966 eine bloße Metapher, eine rote, fleischige, zerfetzte, blutige Metapher gewesen sein mußte. Ich nahm einen Schluck von meinem belgischen Kaffee, es war Gott sei Dank kein englischer Kaffee!, und setzte diesen Gedanken, den ich sicherlich irgendwo einmal gelesen, aufgeschnappt haben mußte, fort. Deutschland – England, dachte ich, das war und ist die Fortsetzung des Krieges, dachte ich diesen Gedanken, diesen fremden und geläufigen Gedanken, zu Ende.
Ich legte die Mail on Sunday, diese englische Sonntagszeitung, zur Seite und zog aus dem Stapel englischer, belgischer und deutscher Sonntagszeitungen eine andere englische Sonntagszeitung heraus. Es war die Independent on Sunday. Die Independent on Sunday schrieb, dieser Abend, diese Nacht gestern, die Nacht des 1. September 2001, sei die größte Nacht seit dem WM-Sieg 1966 gewesen, diese Nacht sei das Gegenmittel für fünfunddreißig Jahre Schmerz.
Ich verzog ein wenig das Gesicht, in meinem vorzüglichen belgischen Kaffee war auch ein wenig nicht so vorzüglicher, bitterer Bodensatz, den ich gerade aus Unachtsamkeit verschluckt hatte. Ich mußte aber noch mehr schlucken, denn in diesem Moment schrien mich ganz unerwartet die Titellettern des sogenannten Sunday Express an. Owens Tore legen deutschen Stolz in Trümmer, schrien diese Lettern, und der Sunday Mirror, auch eine dieser neben meinem Kaffee achtlos abgelegten englischen Sonntagszeitungen, titelte rot, blutig, fetzig: Ausgeblitzt.
Ausgeblitzt. Ausgeblitzt habe es sich. Es habe sich ausgeblitzt mit der deutschen Fußballherrlichkeit, mit dem Kaiser habe es sich ausgeblitzt, und mit Glanz und Gloria habe es sich ausgeblitzt, Deutschland sei ausradiert, erledigt, Deutschland liege am Boden und sei fertig, fix und fertig. Englands Fußballöwen erschüttern Deutschland. Die Nacht, als wir den Deutschen das Maul stopften.
Das las ich. Und ich las in der letzten, in der allerletzten englischen Sonntagszeitung, im Sunday Telegraph, daß Fünf-Sterne-England nun das Kommando übernähme. Erikssons Männer, sagte diese Zeitung todernst, wenden das Blatt gegen den Erzfeind. Michael Owens drei Tore haben die Fußballkarte Europas neu gezeichnet. Englands Torrausch erschüttert die Weltordnung.
Ich schüttete ganz unabsichtlich den kümmerlichen Rest meines belgischen Kaffees über den Sunday Telegraph und griff zu einer deutschen Sonntagszeitung, und in der deutschen Sonntagszeitung stieß ich auf einen Bericht, in dem der Berichterstatter mitteilte: Am Ende dieses 1:5 sangen die englischen Fans höhnisch auf die Deutschen nieder: »Always look on the bright side of life«, das Lied der Komiker von Monty Python.
Das war lustig. Das war fair berichtet, dachte ich. Es war ein lustiger, fairer, ausgewogener Bericht, dachte ich und sann insgeheim auf bittere, schwarze Rache.
Vom Briten lernen
Von Dieter Steinmann
Als mein Freund Günter von Freital mir zirka 1969 die hier folgende Geschichte zum erstenmal erzählte,