Münster - Was nicht im Stadtführer steht. Carsten Krystofiak

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Münster - Was nicht im Stadtführer steht - Carsten Krystofiak

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Jedem Engländer ist zuhause eingehämmert worden, so ein Ding zu erkennen. Sie rollen vorbei.

      Am Ortseingang steht Horstmöller. Der erste Panzer stoppt, die Luke geht wieder auf: »All right?« »Jau«, sagt Horstmöller. »Okay, you go ahead!« Die Luke geht zu, der Panzer fährt an und Horstmöller marschiert an der Spitze der englischen Armee in Billerbeck ein.

      Obwohl der Tag für ihn aufregend genug war, hat er noch nicht Feierabend. Zwei Stunden später wird er aus seiner Kneipe geholt: Mitkommen, zur Schule! »Hier wir machen provisorische Rathaus«, erklärt der Officer. »Wat geiht mi dat an?«, fragt Horstmöller. »You are Bürgermeister now!«, befiehlt der Officer. Basta!

      So glimpflich geht es nicht überall ab. Manch fanatischer Truppenführer hält sich an Hitlers Befehl Nr. 898/45: »Wer in Gefangenschaft gerät ohne verwundet zu sein, hat sein Leben verwirkt. Seine Angehörigen haften für ihn.« Zum Schrecken der Bevölkerung taucht in Buldern eine Kampfgruppe aus Jugendlichen unter einem Kommandanten Faustmann auf. Der befiehlt: »Buldern wird verteidigt bis zum Letzten!« Als die Engländer kommen, hageln ihnen Gewehrpatronen entgegen. Die 6. Tank-Brigade schießt Buldern fünf Stunden lang zusammen. Die Jugendlichen fallen restlos. Die Bevölkerung wird aus den Kellern gezerrt, darunter drei Eisenbahner in schwarzen Uniformen, die kein Englisch sprechen. »SS!«, entscheiden die Engländer und erschießen die verzweifelt Gestikulierenden.

      In Greven wollen die Bürger nicht mehr für »Führer, Volk und Vaterland in Ehren fallen«, sondern einfach nur überleben. Deshalb hissen auch sie vor den herankommenden Engländern die weiße Fahne vom Kirchturm. Plötzlich erscheint eine übrig gebliebene SS-Einheit im Ort, reißt die weiße Fahne herunter und hängt stattdessen eine riesige Hakenkreuzfahne auf. Eine Katastrophe, denn wo die Tommys Widerstand fürchten, pflegen sie den ganzen Ort in Trümmer zu legen. Drei mutige Grevener stürmen den Kirchturm und holen die Nazifahne wieder ein. Am Turmausgang werden sie von der SS gestellt. Vor den Garben der Maschinenpistolen können sie sich gerade noch mit einem Sprung über die Friedhofsmauer retten. Plötzlich andere Schüsse, dann Ruhe – die Engländer sind da.

      In Münster ist der Krieg noch nicht vorbei. Bei Schloss Wilkinghege haben sich Abiturienten auf Befehl ihres Hauptmanns Phillippsburg eingegraben und sollen mit ein paar Gewehren die britischen Panzer aufhalten. Die Panzer kommen von Nienberge und rollen an den Jungs vorbei. Der Hauptmann befiehlt: Schießt! Die Panzer schwenken um und die Schüler sterben, damit die Parteibonzen in Münster eine halbe Stunde Zeit gewinnen, um noch belastende Akten zu vernichten.

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      Stunde Null in Münster. Was Montgomerys Panzer nicht geschafft hatten, erledigten später deutsche Nachkriegsarchitekten ...

      Das war der letzte Widerstand für die Engländer. Innerhalb der Promenade leben nur noch 17 Familien. Ein Mädchen schreibt: »Die Adlerie ergab sich und die Oberrichkeit floh ...« Münsters Gauleiter Meyer entkam zunächst in den Teutoburger Wald. Dort irrte er tagelang herum. Er wanderte bis ins Weserbergland. Aber sein Durchhaltewille war gebrochen. Er erschoss sich Anfang Mai im Wald.

      Zur gleichen Zeit bekommt der brave Horstmöller seinen ersten Auftrag als Bürgermeister: Der britische Officer sagt: »Ich habe viel von Deutschland gesehen, kaputte Städte, Trümmer, Elend. Nur – keinen Nazi. Ich will wissen, wie die aussehen. Bring me one.« Tja – da muss Horstmöller passen: »Sorry Sir, aber Nazis haben wir hier nie gehabt ...«

      (Erschienen 2005)

      Anmerkung:

      Die Naziführung traute den Münsterländern nicht: Wegen ihres Katholizismus hielt Goebbels die Westfalen politisch für unzuverlässig; Hitler schimpfte über Münster als »Pfaffenstadt« und wartete sehnsüchtig darauf, mit diesem »Typen Galen« nach dem Krieg »bis aufs i-Tüpfelchen« abrechnen zu können. Umso beflissener versuchte Münsters Gauleiter Meyer einen guten Eindruck zu machen. Als Stellvertreter des Ministers für den gesamten besetzten Osten, Chefideologe Rosenberg, war Meyer ein hohes Tier im Nazireich. Die zusammengesetzten Schilderungen stammen aus einem antiquarischen Buch des ehemaligen WN-Karikaturisten Helmut Müller.

      Die Preußen-Hasser.

      Katholen, Revoluzzer & die »Ems- republik«: Wie Münster sich vor 90 Jahren fast zum Freistaat erklärt hätte ...

      Interessiert hat Deutschland in den letzten Wochen die Politik in Bayern verfolgt – gespannt, aber auch mit einer gewissen Distanz. Bayern gehört zwar irgendwie zur Bundesrepublik dazu, aber in der Wahrnehmung sind »die da unten in Bayern« doch ein anderer Staat, so ähnlich wie das gefühlte Verhältnis der Wessis zur früheren DDR. Die Bayern sehen das aus ihrer Perspektive genauso: Sie verschanzen ihre Folklore hinter dem »Weißwurscht-Äquator« und granteln, wenn sich die Berliner Regierung und andere Preußen in die Angelegenheiten ihres souveränen Freistaates einmischen. In dieser künstlichen Schutzsphäre hegen die Bayern ihre katholisch-konservative Kultur, die in dieser Laborsituation prächtig gedeiht. Kein Wunder, dass auch in anderen Regionen konservative Katholiken neidisch auf das Freitstaatmodell schauen. So dachte auch die schwarzchristliche Zentrumspartei im Münsterland und plante darum die Gründung eines eigenen Staates – die »Emsrepublik«! Aber der Reihe nach ...

      Lange ist es her, da gehörte Westfalen zu Preußen. Das konnte nicht gutgehen: Hier die gemütlichen stockkatholischen Münsterländer (so schwarz, dass beim Niesen Ruß rauskommt, sagte man) – dort die preußischen liberalen Protestanten. Dauerknatsch verursachte vor allem die Frage, wer in der Schulerziehung das Sagen hat: Die Kirche (wie der Bischof meinte) oder der Staat (worauf Berlin pochte)? Der preußische Kanzler Bismarck ließ es auf eine Kraftprobe mit Westfalens Katholiken ankommen, die in Steinwürfen frommer Kirchenbesucher auf preußische Polizisten eskalierte. Letzten Endes gewann Münsters Bischof. Seit diesem Kapitel vom »Kulturkampf« blieb das Verhältnis zwischen Kirchenvolk und Reichsregierung dauerhaft gereizt.

      Nach dem Ersten Weltkrieg flammte dieser Streit wieder auf. Auslöser war die Übernahme der deutschen Regierung durch die linken Sozialdemokraten. Diese zogen, kaum im Amt, auch schon ein Bündel liberaler Reformen aus der Schublade, die vor allem die Gleichberechtigung der Frauen sowie die Schulpolitik betrafen. Und dann zogen auch noch kommunistische Revolutionsräte durch Berlins Straßen! Den westfälischen Klerikern begannen die Soutanen zu flattern: Schlimm genug, dass die Berliner Regierung aus Protestanten bestand – nun kamen sie auch noch mit roten Revoluzzer-Ideen an! Für die Münsteraner Papsttreuen doppelt ketzerisch!

      Doch der Herrgott schien einen Ausweg zu weisen! In Köln hatten sich katholische Regionalpatrioten öffentlich dafür ausgesprochen, das Rheinland aus Deutschland auszugliedern und zu einer eigenständigen Republik zu erheben. Die Nachricht schlug in Münster – und vor allem im Dom – wie eine Bombe ein! Der »Münstersche Anzeiger« brachte das Thema am 25. November 1918 unter der Überschrift »Los von Berlin!« auf der Titelseite und rief die Leser auf, sich »Anarchie und kommunistische Experimente der Diktatur Berlins nicht länger gefallen (zu) lassen!« Weiter argumentierte der Artikel, die Münsterländer gehörten seit jeher zum selben Volksstamm wie die Rheinländer, während sie mit den eher slawischen Berlinern kaum verwandt seien. Darum wäre es nur natürlich, wenn sich einem rheinischen Freistaat auch die Westfalen anschließen dürften. Der Ruf war unüberhörbar: Nehmt uns mit!

      Doch die Kölner kamen nicht zu Potte: Ein gewisser Konrad Adenauer bremste die rheinische Begeisterung durch skeptische Kritik (und nahm damit seinen dreißig Jahre späteren Kanzlerslogan »Keine Experimente« vorweg). Die Münsterländer suchten also neue Gründungspartner: Ein Leserbriefschreiber schlug vor, sich stattdessen mit Hannover und Minden zu einem neuen Staat Niedersachsen zu verbinden (Begründung: Die Ruhrindustrie erdrücke die Landwirtschaft und im Übrigen seien die Rheinländer eigentlich

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