Was bildet ihr uns ein?. Группа авторов

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Was bildet ihr uns ein? - Группа авторов

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selbst kümmern müssen. Verlass sei nur noch auf uns selbst. Sogar die Prosperität einer Firma versagt als Garant für den eigenen Arbeitsplatz, denn solange sich in einem anderen Land mehr Profit machen lässt, schwebt das Damoklesschwert der Produktionsverlagerung über nahezu jedem Unternehmen. Vom Sozialstaat wissen wir erst recht nichts mehr zu erwarten. Nicht jammern, sondern anpacken, hieß die Losung, auf die wir in der Ära der Macher eingeschworen wurden. In seiner „Aufbruchrede“ zur Agenda 2010 sprach Kanzler Schröder ganze achtzehn Mal von (Eigen-)Verantwortung, neunzehn Mal von (Wahl-)Freiheit. Die Worthülsen vom freien Bürger dienten aber nur als Legitimationsfassade für fortschreitende Entsolidarisierung. „Weniger Staat“ und „mehr Eigenverantwortung“ heißt, dass jeder auf sich selbst angewiesen ist und sich auf andere nicht mehr verlassen kann – schon gar nicht auf den Staat. Wer Pech hat oder nicht das Kind reicher Eltern ist, der fällt eben raus.

      Im Sommer 2009 herrschte Aufruhr an den deutschen Hochschulen. Mehr als 230.000 Studenten, Schüler und Azubis gingen zum Bildungsstreik auf die Straße. Sie demonstrierten für die Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen, die soziale Öffnung der Bildungschancen, die Demokratisierung der Bildungsinstitutionen und mehr Geld für Bildung. „Reiche Eltern für alle“ lautet die häufigste Parole auf den Plakaten und Stoff bahnen, doch die Losungen sind vielfältig: „Mehr Lehrer!“, „Mitbestimmung statt Verschulung“, „Nieder mit dem Kapitalismus“, „Massenfächer schaffen Schmalspurhirne!“ oder „Dumm fickt gut“. Als bei der Demo in Berlin an einer Hauswand ein Transparent mit dem Aufruf nach „Krawall und Remmidemmi“ (nach einer Deichkind-Songzeile) entrollt wird, gibt es Jubel und Applaus, wehrend die Studenten lautstark skandieren: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!“

      So abwechslungsreich die Plakataufschriften sind, so verschieden sind die Motive, wegen derer die Jungen auf die Straße gehen. Es ist eine basisdemokratische Bewegung, organisiert von einem Bündnis aus über 230 lokalen Studenten- und Schülerinitiativen. Eine Bewegung, die keinen Anführer hat, keinen neuen Rudi Dutschke, geeint nur durch ihr gemeinsames Nein zum Status quo des Bildungssystems. Bei der Kundgebung vor dem Roten Rathaus in Berlin bekommt keiner der Redner, sondern der DJ den meisten Applaus – weil Musik das einzige verbindende Element ist, was die vielen Individuen eint, die keine Leitfigur haben.

      Als kollektive Zukunftsskepsis und permanenter Leistungsdruck die Studierenden auf die Straße trieben, reagierte die Politik paralysiert. CDU-Forschungsministerin Annette Schavan fiel nichts Besseres ein, als die Proteste als „gestrig“ abzukanzeln, und bezeichnete die Bologna-Reform als „alternativlos“. Erst als ein Experte nach dem anderen bescheinigte, dass die Studenten recht haben, ruderte sie zurück, schob den schwarzen Peter aber den Bundesländern zu. Ansonsten spielten die Politiker die knausrige Tante, die man flüchtig kennt, die einem einen feuchten Kuss auf die Backe drückt, aber keinen Cent Taschengeld zusteckt.

      Zunächst schien es, als ob die Studenten mit Ritualen in Form eines symbolischen Bildungsgipfels, mit dem demonstrativen Geschacher um Zuständigkeiten und der fadenscheinigen Wiederholung alter Versprechen abgefertigt würden. Außer Spesen nix gewesen?

      Das Protestjahr 2009 zwang schließlich zur Kurskorrektur. Jeder Zeitungsleser in Deutschland weiß seither, dass die wohlgemeinte Bologna-Reform in einem Schlamassel geendet ist. Denn die krassen Fehlentwicklungen im deutschen Bildungssystem – das karge Bildungsbudget, die extrem hohe soziale Selektion, das sagenhafte Scheitern der Bologna-Reform – sind bestens erforscht und bekannt. Nur die Politik kümmerte das bis dato wenig. Das Thema Bildung rückte unversehens nach vorn auf der politischen Agenda. Kaum ein Politiker traute sich, die bisherige Bildungspolitik zu verteidigen, so als sei die Reform vom Himmel gefallen. Die Politiker bekamen es mit der Angst zu tun. Denn sie verstanden, dass man mit schlechter Bildungspolitik Wahlen verliert. Selbst Ministerin Schavan kam letztlich nicht umhin, „handwerkliche Fehler“ beim Bologna-Prozess einzugestehen.

      Die Studenten wurden so ernst genommen wie lange nicht mehr, auf viele ihrer Forderungen wurde eingegangen. Eine Reform des Bologna-Prozesses wurde verabredet; in Hessen und im Saarland schaffte die CDU die Studiengebühren nach empfindlichen Wahlniederlagen wieder ab; in Hamburg wurden sie reduziert. Die Studenten haben auf der Straße eine bessere Politik erzwungen.

      Freilich kann man die Ansicht vertreten, die Veränderungen gingen zu langsam oder seien zu zaghaft. Zugegeben: Stellenweise ist die tatsächliche Beschlusslage noch mau. Die wirklich fundierte Weichenstellung steht noch an: Weder gegen die soziale Selektion noch gegen die chronische Unterfinanzierung der Bildung wurde etwas unternommen und auch die „Reform der Reform“ von Bologna steht erst am Anfang.

      Aber eine Demokratie braucht Zeit, wenn sie sich beraten und nicht halbgare Gesetzesprojekte übers Knie brechen will. Die Konsequenz kann schließlich auch nicht sein, Bologna rückgängig zu machen und auf halbem Wege auszusteigen – in der Pre-Bologna-Ära vor 1999 war schließlich auch nicht alles schön und gut. Nun muss es darum gehen, die Kinderkrankheiten der Reform zu kurieren und den Prozess in ein „positives Bologna“ zu wenden. Ein Pakt Bologna II muss auf den Weg gebracht werden. Vielleicht braucht es erst noch mehr „gestrige“ Proteste, um eine gestrige Hochschulpolitik fit für morgen zu machen.

      Wer gute Bildungspolitik denken und machen will, muss mit denjenigen reden, deren Zukunft von einer guten Bildungspolitik abhängt: den Schülern und Studierenden. Dieses Buch ist ein Buch von jungen Menschen, die Schule und Hochschule aus eigenem Erleben kennen und nicht nur als Beobachter darüber reden. Es ist ein Buch von jungen Menschen, die vom heutigen Bildungssystem unmittelbar betroffen sind, es satt haben, noch länger vertröstet zu werden. Sie wollen keine Pragmatiker sein, denen schrittweise Reförmchen genug sind oder die den Weg des geringsten Widerstands gehen. Sie empören sich darüber, was falsch läuft. Und sie geben Anstöße, wie es besser gehen kann.

      Dieses Buch analysiert, diskutiert, reflektiert. Es ist eine scharfe Bestandsaufnahme unseres Bildungssystems, es gibt Impulse für ein neues Bildungsverständnis, für neue Wege, für eine neue Art und Weise des Lehrens und des Lernens und vor allem: Es ist ein intellektuelles Vergnügen. Dieses Buch ist Gedankenfutter für die neue Jugendbewegung, die für mehr Demokratie und Gerechtigkeit streitet. Ich wünsche mir, dass die Erkenntnisse in diesem Band die Debatte anfeuern, die Bewegung beflügeln und die Politik auf Trab halten.

       Einleitung

      Bettina Malter und Ali Hotait

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      Profi-Hürdenläufer zu werden, ist der Traumberuf eines jeden Kindes1. Zumindest müsste er das sein, wenn man sich die Hindernisse anschaut, die das deutsche Bildungssystem für sie bereit hält. Sei es, die Grundschule mit guten Noten zu bestehen, um auf ein Gymnasium gehen zu können, nach der Schule einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder überhaupt gesund das Ziel zu erreichen. Hürdenläufer taucht jedoch nicht in der Top-10-Liste der beliebtesten Ausbildungsberufe auf. Jugendliche wollen lieber Erzieher, Koch oder Mechatroniker werden. Andere träumen davon BWL, Medizin oder Germanistik zu studieren. Um das zu erreichen, müssen jedoch alle den Hürdenmarathon bewältigen. Das Problem: Wer die falschen Voraussetzungen mitbringt oder einen Fehltritt macht, muss entweder steinige Umwege hinnehmen oder wird gar disqualifiziert.

      Den Hürdenmarathon, zu dem uns unser Bildungssystem zwingt, zeichnen wir in diesem Buch nach. Dabei stellen wir die verschiedensten Hindernisse dar, denn Hürde ist nicht gleich Hürde. So gibt es die, mit denen alle zu kämpfen haben, die, die sich nur für bestimmte Kinder, Jugendliche und Studierende stellen, und wiederum solche, die direkt mit der Gesellschaft zusammenhängen. Zudem zeigen wir auch institutionelle Hürden auf. In der Wissenschaftssprache nennt man dies institutionelle Diskriminierung. Diese meint Diskriminierungen, die innerhalb einer Institution wie der Schule stattfinden. Es handelt sich dabei meist um „etablierte Strukturen, eingeschliffene Gewohnheiten […] und bewehrte

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