Cyberland. Gundolf S. Freyermuth

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Cyberland - Gundolf S. Freyermuth

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Minderheiten, politischen Utopisten und religiösen Sekten, den Freiraum bot, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Mehr als anderswo hat sich in der zerstreuten Siedlungslandschaft zwischen den Rocky Mountains und dem Pazifik etwas von diesem Pioniergeist erhalten. Hier ist die Sehnsucht nach Veränderung und Abenteuer noch stärker als der ängstliche Wunsch nach Erhalt des Erreichten, und hier bereiten in unzähligen Nischen und Subkulturen avantgardistische Hightech-Pioniere die Eroberung des letzten Freiraums vor, der auf diesem Planeten verblieben ist: des Cyberspace.

      Wie alle Lifestyle-Umwälzungen in den vergangenen zweihundert Jahren wurde auch diese durch eine technische Neuerung ausgelöst, nur dass es diesmal nicht der Telegraph, das Gaslicht, die Elektrizität, das Automobil, das Radio oder der Film war, sondern der Computer.

      Während die Mehrheit der Menschen das elektronische Gerät als eine banale Mischung aus klobiger Rechenmaschine und besserem Tippgerät mit Löschvorrichtung missverstand, ging es Computer-Pionieren wie Douglas Engelbart von Anfang an darum, eine »augmentation machine« (»Verbesserungs-Maschine«) zu schaffen, die den Menschen neue Wissens- und Existenzformen eröffnen sollte. Hacker und Technik-Nerds folgten dieser Grundidee. Sie erprobten das Potential des Computers als universelles Ermächtigungsmittel, das Realität kontrollierbar macht und zugleich erlaubt, neue Realitäten zu erzeugen, und so den einzelnen in den nie gekannten Stand versetzt, seine eigenen Erfahrungen sowie Teile der Wirklichkeit, die einst materiell fixiert waren – Datensammlungen, Texte, Zeichnungen, Fotos, Tonaufzeichnungen, Filmsequenzen, komplette Erlebniswelten –, nunmehr in Nullen und Einsen zu repräsentieren, sie sodann nach seinem Willen und zu seinen Gunsten zu modifizieren und das Ergebnis schließlich vom Heimcomputer via Cyberspace Gott und der Welt zuzuspielen.

      Zwangsläufig avancierte ein solches Gerät binnen kurzem zur Traummaschine, die das beste und rücksichtsloseste Talent einer Generation anzog, wie es einst die Künste oder die Politik und zuletzt die Popkultur getan hatten.

      Der archimedische Punkt auf der Landkarte, an den die zukünftigen Helden und Herren der Hightech-Industrien strömten - jedenfalls bevor der Cyberspace eröffnet wurde und die Notwendigkeit zu geographischer Nähe weitgehend entfiel –, lag im amerikanischen Westen, mit den wuchernden Vorstadtlandschaften der Bay Area und rund um Los Angeles als mittelpunktslosen Zentren und mit Seattle, Salt Lake City, Las Vegas, Phoenix, Santa Fe und Los Alamos als vornehmsten Satelliten.

      Schon seit den zwanziger Jahren, als das gute Wetter die Film- wie die Flugzeugindustrie anzog, birgt dieser Teil der Welt eine ungewöhnliche Dichte von innovativen Technik- und Unterhaltungsproduzenten. In den vierziger Jahren führte die Atomforschung, in den Fünfzigern die Weltraumfahrt zu einer weiteren Zuwanderung von Spitzenforschungseinrichtungen und Hochtechnologie-Firmen. Im Gefolge der Microprozessor-Revolution wandelte sich der Westen dann vollends zum imaginären Zentrum der Gegenwartskultur, dessen Basiserfindungen und Produkte global dominieren.

      Aus diesem immer noch recht dünnbesiedelten Stückchen Erde, kommt die Mehrheit dessen, was um die Erde und in den Weltraum fliegt. Hier nahmen die beiden mythischen Urbilder des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Ausgang, der in den Himmel steigende Atompilz und die Außenansicht vom blauen Planeten, wie er im Weltall treibt. Hier wurden im legendären Xerox Parc die graphische Benutzeroberfläche, die Computermaus, der Laserwriter und das Netzwerk herbeigebastelt. Hier entsteht die weltweit erfolgreichste Unterhaltungssoftware - Kinofilme, TV-Serien, Popmusik, Videospiele. Hier werden die Chips entworfen, ohne die nirgendwo etwas mehr liefe, und hier werden die erfolgreichsten Betriebssysteme und Programme geschrieben. US-Firmen zeichnen für siebzig Prozent aller existierenden Computersoftware verantwortlich, Microsoft allein produziert pro Jahr mehr Code als jede andere Nation der Welt.

      »Auf dem Gebiet von Hardware und Software für Computer reicht niemand an Amerika heran«, räumt Hiroshi Tanaka, Senior Managing Director der japanischen Hightech-Firma Canon, klagend ein. Weshalb seine Firma auch nicht mit japanischen Partnern zusammenarbeiten könne: »Das [Silicon] Valley ist dem Rest der Welt zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre voraus.«

      Es war also nur logisch, dass der Cyberspace als vorderste frontier der Gegenwart ebenfalls von hier aus erschlossen wurde - als ein Stück Amerika und als ein Stück amerikanischer Vorherrschaft. Die Sprache und Kultur der Nation, die diesen utopischen Raum jenseits der Geographie entdeckt hat, formen ihn. Längst verdienen in den USA mehr Menschen ihr Geld mit Herstellung, Handel und Service von elektronischer Hard- und Software als mit irgendeinem anderen Wirtschaftsprodukt, Schwer- und Autoindustrie eingeschlossen. Von einer militärisch-industriellen Supermacht ist Amerika zu einer Supermacht in den Bereichen von Massenunterhaltung und Informationsverarbeitung geworden. Bis heute befindet sich ein Großteil der Hardware und Infrastruktur der Netze auf US-Boden, und selbst innereuropäische Verbindungen verlaufen oft schneller und billiger über den Umweg des nordamerikanischen Kontinents.

      »Dieses Land ist dazu auserwählt«, sagt der Ex-Medienagent und Disney-Präsident Michael Ovitz, »weltweit die Standards für Informations- und Unterhaltungsdienste zu setzen.«

      Die US-Dominanz zeigt sich besonders deutlich im Internet. Siebenunddreißig Millionen Nordamerikaner hatten Ende 1995 Zugang zu ihm, vierundzwanzig Millionen benutzten es regelmäßig, im Schnitt um die fünf Stunden pro Woche. Im Weltvergleich sind rund dreiundsechzig Prozent aller Internauten Amerikaner und lediglich einundzwanzig Prozent Europäer - obwohl die Alte Welt über erheblich mehr Einwohner verfügt. Besonders kümmerlich vertreten ist Deutschland mit höchstens zweihunderttausend regelmäßigen Internet-Nutzern. Nicht anders sieht die Situation in den kommerziellen Netzen aus. CompuServe etwa, das seine Mitgliederzahl binnen zweier Jahre vervierfachte - von einer Million im September 1993 auf rund vier Millionen im Dezember 1995 - zählt nur einhunderttausend deutsche Kunden. Noch weniger sind Mitglied bei dem derzeit mit 4,5 Millionen Mitgliedern weltweit größten kommerziellen Anbieter America Online.

      Doch der Cyberspace gehört so wenig den Amerikanern allein wie einst die Pariser Nacht den Franzosen. Seine Grenzen sind offen, sein Terrain ist unerschlossen. Der multinationale Freiraum stellt das aktuelle »Register der Weltgeschichte« dar, das derzeit beste »Fernrohr der Zukunft«. In diesem globalen Laboratorium experimentiert die heutige Menschheit mit neuen Wirklichkeiten und Bewusstseinsformen.

      Was dabei unzensiert zu Tage tritt, erschüttert den rückständigen Alltag als kulturelles Erdbeben und lässt langgehegte Gewissheiten und Gewohnheiten zu Bruch gehen. Wie Paris im neunzehnten Jahrhundert ist der Cyberspace heute Schauplatz der brennendsten Kontroversen und zugleich der gegenwärtig kontroverseste Ort. In den Netzen kulmiminieren die intellektuellen Strömungen, künstlerischen Tendenzen und avanciertesten Techniken der Epoche zu einer bunten multimedialen Mischung aus Chaos-Theorie und Videokunst, Genetik und Kryonik, postmoderner Theorie und Popmusik, Gruppenspielen und Science Fiction, Mythologie und Nanotechnologie, Computergraphik und Online-Sex, wobei der Unterhaltungsbranche und insbesondere den Künsten des An- und Ausziehens, Cybermoden, Cyberspielen und Cyberporn, unverändert eine Schlüsselstellung zukommt.

      Ein phantastischer Umstand trennt jedoch die Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die sich an diesem explosionsartig expandierenden utopos ausformt, von allen historischen Vorgängern: Ihre neuen Kulturräume erschafft sie sich jenseits der widerständigen Wirklichkeiten der zahllosen ungleichzeitigen Zivilisationen, die gegenwärtig auf der Erde unfriedlich koexistieren, dabei die jeweilige Stufe ihrer Unterentwicklung hartnäckig verteidigend.

      Als Ludwig B. damals unterwegs in seine Zukunft war, die Pariser Frühmoderne, traf er bei einem Zwischenaufenthalt in Karlsruhe eine Freundin und deren Sohn.

      »Ich sah eine schönere Zeit in rosenroter Knospe. Wenn die einmal aufbricht!« schwärmte er und war zugleich voller Traurigkeit darüber, dass der Junge vorerst in der deutschen Enge aufwachsen sollte, deren Alltag keine Zukunft hatte: »Wie gerne hätte ich ihn der Mutter gestohlen und ihn mit mir über den Rhein geführt, ihn dort zu erziehen mit Schlägen und Küssen, mit Hunger und Rosinen, dass er lernte frei zu sein und dann zurückkehre,

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