Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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»Die Umsätze werden steigen, es gibt noch Vermögenswerte im Osten. Der Berliner Platz wird attraktiv.«

      An diesem Freitag, dem 10. November 1989, erreichen Spitzenzuwächse Baufirmen mit bis zu dreizehn Prozent und Brauereien - Berliner Kindl plus acht Prozent.

      »Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der so verzweigt, so ineinander verfädelt, so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien. Durch die Straßen von Berlin jagten die grauen Autos der Offiziere, auf den Plätzen standen wie Säulen der Macht die Schutzleute, eine riesige Militärorganisation schien alles zu umfassen, in den Ämtern und Ministerien thronte eine scheinbar unbesiegbare Bürokratie. Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern nachmittag existierte nichts mehr davon«, resümierte am 10. November 1918 Theodor Wolff im Berliner Tageblatt.100 Und der Theologe Ernst Troeltsch erinnert sich an den Tag danach: »Sonntag, der 10. November, war ein wundervoller Herbsttag. Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten, lauter Bürger, manche wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, dass es so gut abgegangen war. Trambahnen und Untergrundbahnen gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, dass für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.«101

      In einer überfüllten Bank am Ku'damm bemüht sich eine Frau Mitte Dreißig um das Begrüßungsgeld. Hundert Mark pro Kopf. Der Schalterbeamte verlangt, den Kopf des Kindes der Frau zu sehen. Die Frau verlässt die Bank und geht auf ein anderes Zoni-Paar zu. »Tschuldigung, könnten Sie mir mal Ihr Kind leihen?« Solidarität ist angesagt, das Beispiel macht Schule, ein schwunghafter Kinderverleih setzt ein.

      Bonner Prominenz spricht und singt mehr schlecht als recht vor dem Schöneberger Rathaus. Am Ku'damm stehen derweil die größten Menschentrauben vor den Schauräumen von Mercedes und BMW.

      »Diese Woche sind die Gefühle dran«, sagt ein Journalist aus der Hamburger Oberliga, der zwecks Stimmungsberichterstattung gerade eingeflogen wurde, »nächste Woche beginnen für alle die Geschäfte. Ich bin halt schneller, ich fange jetzt damit an.«

      Der Verfassungsschutz gibt bekannt, dass er ab sofort auf die Befragung von Übersiedlern verzichtet.

      »Was mich verunsichert«, gesteht mir ein Ex-SDSler, inzwischen in der Filmbranche erfolgreich, »ist die Veränderung an sich. Wir hatten uns doch alle darauf eingestellt, dass sich nichts mehr ändert. dass wir vielleicht noch mal die Eigentumswohnung wechseln. Oder die Frau. Aber wer wirkliche Abenteuer sehen wollte, der musste sehr weit weg schauen, nach Afrika oder Südamerika. Und jetzt plötzlich das!«

      »Mit rasender Wucht rollt sich die Entwicklung der Ereignisse nun auch in Berlin ab«, meldete die Rote Fahne über den 9. November 1918: »Die Umwälzung setzte vormittags ruhig ein und vollzog sich auch weiterhin in völlig geordneten Formen.«102

       »In der Nacht vom 9. auf 10. November und am 10. November 1938 trugen sich in ganz Deutschland Ereignisse zu, die ich als das Signal für eine völlig andere Behandlung der Judenfrage in Deutschland ansah«, berichtete der stellvertretende Gauleiter von Franken einer Prüfungskommission: »Durch die in der Nacht und am Morgen des 10. Novembers vorgenommene Große Aktion gegen die Juden waren alle Richtlinien und alle Gesetze auf diesem Gebiet illusorisch gemacht.« 103

      Nicht ich muss gehen. Das Land verlässt mich, während ich bleibe. Vereinigt soll etwas werden, das ich nur getrennt kenne. Angeknüpft werden soll an eine Vergangenheit, nach deren Zerstörung ich erst geboren wurde. Ich beobachte den Untergang, das Verschwinden des Landes, dessen Bürger ich war. Fünfunddreißig Jahre lang.

      »Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht sich unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen«, hat Theodor W. Adorno Mitte der vierziger Jahre aus den Erfahrungen des Exils geschrieben. Zu einem Zeitpunkt gelesen, da zwei der drei NS-Nachfolgestaaten alles daran setzen, ihre vierzigjährige Existenz in eine Fußnote der mitteleuropäischen Geschichte zu verwandeln, gewinnen diese Sätze neue Bedeutung. Denn bei der auch kulturellen Vereinigung nimmt zum dritten - und wohl auch letzten Mal - die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus und mit der von ihm vertriebenen Kultur der ersten deutschen Demokratie eine Schlüsselstellung ein. Die Konstitution einer neuen gesamtdeutschen Identität wird von ihr auszugehen haben, soll das nationale Trauma sich nicht blind wiederholen. »Darum ist es töricht und sentimental«, fährt Adorno fort, »vor der Schmutzflut des Gegenwärtigen Vergangenes rein erhalten zu wollen. Diesem ist keine Hoffnung gelassen, als dass es, schutzlos dem Unheil ausgeliefert, aus diesem als anderes wieder hervortrete.«104

      »In diesen Tagen, in denen die Welt auf Berlin, auf Deutschland blickt, braucht sich niemand seiner Tränen zu schämen«, hieß es im Leitartikel des ersten Extrablatts, das die Frankfurter Allgemeine je herausbrachte.105 Die Berliner BZ, nur drei Stunden nach dem Ereignis bereits erhältlich, fasste es knapper: »Der schönste Tag in der jüngsten Geschichte Deutschlands.« Am griffigsten aber war es dann Anfang der nächsten Woche in Berlin auf T-Shirts zu lesen:

      9. November - ich war dabei!

Zweites Kapitel

       11

       »Seit fünfzig Jahren stehe ich als unbezahlter Statist auf der Bühne der Weltgeschichte.«

      Abschied vom Kurfürstendamm • An einem sonnigen Vormittag im August 1931 unternimmt Paul Viktor Falkenberg einen Spaziergang durch den Berliner Westen, an dessen Ende nichts mehr in seinem Leben sein wird, wie es war.

      Auf den Bürgersteigen herrscht das alltägliche geschäftige Treiben, auf den Terrassen der Cafés bleibt kein Tisch frei. Die Welt scheint in Ordnung. Kaum etwas im gutbürgerlichen Straßenbild deutet daraufhin, dass es ein Alltag am Rande des Abgrunds ist. Wohlstand, nicht wirtschaftliche Not zeigt sich auf den Boulevards, und doch muss inzwischen bald jedes zweite Gewerkschaftsmitglied stempeln gehen.106

      Wie die meisten, die mit ihm auf dem Ku'damm promenieren, weiß der achtundzwanzigjährige Paul Falkenberg von den großen politischen Auseinandersetzungen, die der ersten deutschen Demokratie den Garaus zu machen drohen, nur aus zweiter Hand. In einer Fabrik hat er nie gearbeitet, Wahlveranstaltungen besucht er nicht, erst recht keine der Nazis. Den Völkischen Beobachter oder den Angriff in die Hand zu nehmen, käme ihm nie in den Sinn. Dafür liest er so gut wie jedes Buch, das der fortschrittliche Malik-Verlag herausbringt.

      Seiner »linken« Grundeinstellung zum Trotz lebt der junge Mann, einer der ersten »Tonfilm-Schnittmeister« Deutschlands, in einer alltagsfernen, unpolitischen Welt. Er führt die Existenz eines typischen Intellektuellen der Weimarer Republik. Sein Berlin ist die Kulturkapitale Europas, tonangebend in Literatur, Theater und Film, eine Metropole der Technik und der lockeren Sitten, grell und schrill, spannend und hektisch, volkstümlich und snobistisch, lokalpatriotisch und kosmopolitisch - ein Pflaster, auf dem man, wie Elias Canetti sich erinnert, »keine zehn Schritte« ging, »ohne jemand zu begegnen, der berühmt war«.107

      Draußen in den Arbeiter-Vorstädten aber herrscht bereits die Gewalt. Nazis und Kommunisten liefern sich Saalschlachten, SA-Trupps überfallen wehrlose Passanten, weil sie »rassefremd aussehen«, Woche für Woche fordern Straßenkämpfe Schwerverletzte und Tote. Der uniformierte Mob schickt sich an, die Republik zu

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