Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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»Bis fünf Uhr früh«, erinnert sich Davidsohn, »stand ich dabei, dann rückte die Feuerwehr ab, das Feuer verglimmte, und ich sagte ›Kaddisch‹.« 96

      Jedes dritte Fahrzeug auf den nächtlichen Straßen ist ein Wartburg oder Trabbi. Man traut seinen Augen nicht. »Die Grenzen sind offen, die Ostberliner sind in der Stadt«, meldet der RIAS.

      An die Invalidenstraße führt kein freier Weg mehr. Im Radio heißt es, dort fänden Freudenfeiern statt. Wer mir entgegenkommt, ist in euphorischer Eile.

      »Wo wollen Sie hin?«

      »Zum Ku'damm«, sagt die Frau.

      »Immer geradeaus«, sagt ihr Mann.

      »Hauptsache drüben«, brüllt einer, der im Laufschritt vorbeizischt.

      Auf der Entlastungsstraße und der Straße des 17. Juni staut sich der Verkehr. Tausende wollen zum Brandenburger Tor. Kolonnen von Fußgängern ziehen durch den Tiergarten. Eine eigentümliche Hysterie liegt in der Luft. Vier dunkelblaue S-Klasse-Mercedesse zischen mit Polizeibegleitung an mir vorbei.

      Nach einem längeren Fußmarsch hole ich die Wagen wieder ein. Sie stehen in der abgesperrten Zone vor dem Brandenburger Tor. Auf einer improvisierten Bühne probt Tom Brokaw, einer der drei Top-US-Anchor-Men seinen Auftritt. Er soll live in die New Yorker Abendnachrichten geschaltet werden. Deutsche Fernsehteams sind nicht zu sehen. Polizisten auch nicht. Über Tausend Menschen dürften es sein, die sich jetzt um die Bühne drängeln.

      Ich steige über eine Absperrung, von der ich denke, dass die TV-Leute sie errichtet haben. Dutzende machen es mir nach. Jetzt haben wir die Mauer am Brandenburger Tor erreicht. Ich drehe mich um. Ein paar Meter hinter mir steht stumm und bewegungslos ein Polizist im üblichen Thermogrün. Eher schüchtern. Ein wenig so, als gehöre er gar nicht dazu, als sei er aus Versehen hierher geraten.

      »Was hat der denn für ›ne komische Kappe?« fragt die Frau neben mir.

      Das Ding ist feuerrot und eindeutig nicht westlicher Herkunft.

      »Ick gloob', wir sind im Osten, wa?« sagt die Frau.

      »Irre«, sag' ich.

      Auf der Bühne werden die Scheinwerfer angeschmissen. Tom Brokaw stellt sich in Positur, mit dem Rücken zum Brandenburger Tor.

      »Wenn ihr auf die Mauer klettert, kommt ihr gut ins Bild«, rät ein Helfer der TV-Leute.

      »Einfacher gesagt als getan«, mault einer aus der Menge zurück.

      Die ersten erklimmen mühsam die Mauer. Britische Militärpolizisten treffen ein, bleiben aber brav an der Sektorengrenze stehen. Mir fällt ein, dass ich, sicherheitsbedürftig wie ich in den aggressiven letzten Wochen geworden bin, einen kleinen Hammer in der Tasche meines Ledermantels trage. Wer oben ist, zieht die weniger gewandten hoch. Wir sind das Volk, warum nicht auch wir, und das Volk tanzt auf der Mauer. Zum ersten Mal. Tom Brokaw geht auf Sendung. Ich ziehe meinen Hammer aus der Tasche.

       In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und den Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werk. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen ...

       Dreimal ließ ich das Taxi halten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren.

       Als ich zum vierten mal halten wollte, weigerte sich der Chauffeur: »Es hat keinen Zweck«, sagte er, »und außerdem ist es Widerstand gegen die Staatsgewalt.« 97

      Vor dem Springerhochhaus an der Kochstraße verteilen Zeitungsjungen kurz nach zwei Uhr die ersten Extrablätter kostenlos an die paradefahrenden West- und Ostberliner. Ich nehme eine BZ: »Die Mauer ist weg«, verkündet die Schlagzeile, und dabei sehe ich sie doch, nur ein paar Meter entfernt, in bestem Zustand. Wie gezählt ihre Tage sind, kann ich mir immer noch nicht vorstellen.

      »In der näheren Umgebung der Grenzübergangsstellen gibt es keine Parkplätze mehr«, heißt es im Verkehrsfunk. Mitten in der Nacht.

      Auf Tauentzien und Ku'damm steht der Verkehr in beide Richtungen. Es stinkt bestialisch nach Zweitakter, das Hupkonzert ist ohrenbetäubend. Auch die Bürgersteige sind bis zum Bersten gefüllt. Ich fahre tanken am Hohenzollerndamm.

      »Wo geht es hier zum Ku'damm?«

      Aus dem Osten kommend, wie Sprache, Kleidung und Gestik verraten, müssen die beiden jungen Paare den längst passiert haben. Ich zeige ihnen den Weg.

      »Gehen Sie zurück?« frage ich.

      »Natürlich.«

      »Und wenn morgen wieder dicht ist?«

      »Wir müssen zurück!« sagen beide Frauen fast im Chor.

      »Warum?«

      »Na, die Kinder schlafen doch. Die wissen doch gar nicht, dass wir los sind. Wir wollten ja eigentlich nur ein paar Meter in den Westen und dann gleich nach Hause.«

       »Komisch, so viele Glassplitter auf der Straße! In dem schönen, eleganten Modegeschäft sind ja sämtliche Scheiben eingeschlagen, die Schaukästen leer ... Was haben sie bloß wieder gemacht?« denkt Hertha Nathorff auf ihrem Weg zur Arbeit am Morgen des 10. November 1938: »Da höre ich eine gutangezogene Dame im Vorbeigehen zu ihrem Mann sagen: ›Recht geschieht es der verdammten Judenbande, Rache ist süß!‹« 98

      Viele der am 9. November Verhafteten erlebten ihren Tag danach oft erst Wochen später. Zu ihnen gehört Ingeborg Hechts Vater: »Er kam, kahlgeschoren, gebückt, schmal. Ein müder Mann mit müden Augen. Und er fror, fror, fror. Er hatte die Kälte in seinem Körper gespeichert, beim Steineklopfen im Freien, bei vorschriftsmäßig dünner Kleidung im eisigen Novemberwind. Wer sich heimlich wärmendes Zeitungspapier unters Hemd geschmuggelt hatte, wurde halbtot geschlagen ... Mit leiser Stimme, unterbrochen von dem dumpfen Husten, den er lange nicht mehr losgeworden ist, erzählte er Ungeheuerliches. Wenn es nicht unser eigener Vater, Doktor der Rechte und bei klarem Verstand, gewesen wäre, hätten wir das alles nicht geglaubt.«99

      »Gestern war das deutsche Volk das glücklichste Volk der Welt«, sagt am nächsten Tag Walter Momper im Radio.

      »Auffällig, wie viel junge Leute in der Stadt sind«, meint ein RIAS-Reporter, »offensichtlich wird in Ostberlin heute ganz kräftig die Schule geschwänzt.«

      Der SFB meldet, bei Erika gebe es die ganze kommende Nacht Freibier, und bei Joe am Ku'damm kann ab sofort mit Ostmark bezahlt werden. Hertha BSC offeriert zehntausend Freikarten für das morgige Spiel.

      Eine ältere Sekretärin in einer City-Firma besteht darauf, sofort eine größere Menge Bargeld abheben zu gehen. »Ich kenne das von früher«, sagt sie, »später kriegen wir nichts mehr.«

      Die

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