Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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Schauprozess. Als Öffentlichkeit fungierten dienstfreie Richter und Staatsanwälte«, sagt Gandert. »Drei Jahre weniger sechs Wochen habe ich dann in Potsdam und Brandenburg gesessen.«

      Seiner Filmleidenschaft tat die Haft keinerlei Abbruch. In den siebziger Jahren, Gero Gandert war inzwischen Abteilungsleiter der Berliner Kinemathek, erwuchsen aus der jahrelangen intensiven Beschäftigung mit dem deutschen Stummfilmkino erste Kontakte mit Filmkünstlern, die vor Hitler nach Hollywood emigriert waren. dass er 1976 das einzige noch vorhandene Originalmanuskript zu »Doktor Caligari« entdeckte, dem international berühmtesten deutschen Stummfilm, brachte ihm eine Einladung zu einer Vortragstournee durch die USA ein. In Los Angeles traf er Curtis Bernhardt und John Pommer, Henry Koster, Billy Wilder - und Paul Kohner, der die Rechte an »Doktor Caligari« besaß.

      »Von da an konzentrierte ich mich ganz auf Amerika. Ich habe mehrere Exil-Retrospektiven für die Berliner Filmfestspiele mitentwickelt, ich habe eine Ausstellung mit Plakaten der zwanziger Jahre gemacht, die nach New York ins Museum of Modern Art kam, auch nach Berkeley und ins Los Angeles County Museum. Das ergab jedes mal wieder eine Reise, auf der ich meine Kontakte pflegen konnte. Und eines Tages habe ich eben gesehen, da liegt dieser ungeheure Schatz im Keller, der langsam verderben würde, wenn man ihn nicht birgt. Behutsam habe ich angefangen, Paul Kohner davon zu überzeugen, dass wir ein seriöses Institut sind mit einem besonderen Interesse an dem Schicksal und der Arbeit von Emigranten und dass wir sein Archiv gerne für ein zukünftiges Berliner Filmmuseum übernehmen würden.«

      Die Stiftung Deutsche Kinemathek residiert am Theodor-Heuß-Platz, direkt gegenüber dem britischen Naafi-Gebäude. Der Aufzug, mit dem wir in den vierten Stock fahren, knarrt so gefährlich, als sei seine Mechanik komplett aus morschen Balken gebaut. Das alte Haus riecht nach Linoleum, Bohnerwachs und dem Muff der fünfziger Jahre. Mein Cicerone geleitet mich durch die langen Gänge, die sich durch das Gebäude fressen. Er erzählt von der Arbeit an seinem »Handbuch des Films der Weimarer Republik«. Das zukünftige Standardwerk soll in vierzehn Teilen erscheinen, für jedes Jahr, das die erste deutsche Demokratie dauerte, ein Band; der letzte »Gandert« dürfte erst in den zwanziger Jahren des nächsten Jahrtausends fertig werden.

      In den Amtsräumen, in die ich geführt werde, herrscht eine eigentümliche Mischung aus Ordnung und Chaos; eine bunte Tristesse aus Akten, Topfpflanzen und Plakaten, interessanten Büchern und langweiligen Formularen, die in wilden, wackligen Stapeln durcheinander liegen. Gero Gandert, den man schwerlich einmal antrifft, ohne dass er einen Wust Papiere und ein, zwei Ordner mit sich herumschleppt, fügt sich hier ein wie eine Blume ins monotone Wiesengrün. Seine kreative Nischenexistenz verkörpert dieses Westberliner Gemenge aus bürokratischem Verwaltungswillen und freiheitlichem Hang zur Unordnung.

      Durch die offenen Fenster dringt ohrenbetäubender Verkehrslärm herauf. »So sehr ich die Öffnung der Mauer begrüße, weil Berlin verdammt provinziell geworden war«, spricht Gandert gegen das Getöse an, »ein Remake der vergangenen Größe wird es kaum geben. Denn das entscheidende Element fehlt. Ohne das liberale jüdische Bürgertum, das die Weimarer Republik geprägt hat, ist eine Neuauflage nicht möglich. Aber Berlin als Metropole, als eine der interessantesten Städte der Welt, das kann ich mir gut vorstellen.«

      »Wird die Exil-Tradition noch die Identität stiftende Bedeutung haben können«, frage ich Gandert, »die sie, natürlich weitgehend beschränkt auf ihre parteikommunistischen Vertreter, für die DDR besaß? Und werden die Werke der linksliberalen, demokratischen Intelligenz, die vor Hitler in die USA emigrierte, weiterhin einen herausragenden Einfluss auf das kulturelle Leben eines vereinigten Deutschland ausüben, wie es seit den sechziger Jahren in der Bundesrepublik der Fall war?«

      »Wie es sein wird?« Gandert zuckt mit den Schultern. »Das hängt ja von uns ab ... Wissen Sie, dass ich in der SPD bin?« Er geht zum Fenster und schaut hinunter auf den menschenleeren und autovollen Theodor-Heuß-Platz. »Ein vereinigtes Deutschland hätte allen Grund, sich auf seine antifaschistischen demokratischen Traditionen zu besinnen. Vielleicht werden die Leute von drüben dafür eine geschärfte Sensibilität mitbringen. Von denen könnten wir lernen, was für tolle Leute nach Moskau emigriert sind, um die wir uns bisher nicht gekümmert haben. Und die Ostdeutschen werden lernen müssen, welche tollen Leute in die USA gegangen sind, von denen sie bis jetzt nichts wissen durften.« Gandert dreht sich herum und sieht mich an. »Achtzig Prozent meiner Freunde sind heute zwischen fünfundsiebzig und neunzig Jahre alt, Emigranten, die alle demnächst tot sein werden. Die Begegnung mit ihnen hat mein Leben verändert, hat ihm eine neue Dimension gegeben. Wenn mich jemand fragt, sage ich immer: Soviel Humanität, soviel Menschlichkeit wie man bei den exilierten deutschen Juden antrifft, kann man in Deutschland mit der Laterne suchen ...«

       7

       »Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht sich unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen.« 76

      Café Kohner • Die Klimaanlage brummt lauter denn je. Auf den Fenstern steht die Nachmittagssonne. Unsere Sandwichs haben wir aufgegessen und dazu viel wunderbar wässrigen amerikanischen Kaffee getrunken.

      »Seit fünfzig Jahren ist John Huston mein Klient, ich mag ihn sehr, er ist ein wunderbarer Mann. Nie haben wir einen Vertrag geschlossen, das läuft alles auf Handschlag.« Paul Kohner sitzt an dem kleinen Tisch im hinteren Teil des Büros. »Als ich John kennenlernte, war er noch Schriftsteller«, sagt er, »und Schriftsteller gab es damals in Hollywood eine unerhörte Menge! Vor allem Europäer.«

      Zu dieser Vielfalt hat Paul Kohner selbst nicht unwesentlich beigetragen. Als Ende 1939 die Nachrichten von der verzweifelten Lage der in Südfrankreich von den Nazis eingekesselten Autoren - darunter Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Walter Mehring und Heinrich Mann - nach Kalifornien drangen, überredete Kohner persönlich die Bosse der vier größten Produktionsfirmen, den in der Regel filmunerfahrenen Schriftstellern sogenannte »Notverträge« zu geben. Diese Anstellungen waren zwar auf ein Jahr beschränkt und äußerst niedrig dotiert. Durch sie gelangten die Flüchtlinge jedoch in den Besitz der lebensrettenden amerikanischen Einreisevisen. Sie wiederum ermöglichten die Ausreise aus Frankreich und den Transit durch Franco-Spanien und Portugal.77 Paul Kohner half so entscheidend mit, einen nicht unerheblichen Teil der deutschsprachigen literarischen Elite vor KZ und Vernichtung zu retten.

      »Ich ging zu MGM, zu Louis B. Mayer«, erzählt der alte Mann, »und erklärte ihm unseren Plan: ›Wenn Sie bereit sind, in der Woche für zehn Schriftsteller je hundert Dollar zu geben, bekommen Sie die Leute für zweiundfünfzigtausend Dollar im Jahr. Was immer die auch schreiben, gehört Ihnen. Wenn Sie nur ein oder zwei Manuskripte davon gebrauchen können, haben Sie schon das ganze Geld wieder rein.‹ Mayer hat gleich zugesagt. Dann ging ich weiter zu Warner Brothers, zu Fox und zur Columbia. Da saß der Harry Cohn, der war der schwierigste: ›Ach, ich nehme nur fünf Schriftsteller‹, sagte der. Sagte ich: ›Du bekommst zehn oder gar keinen.‹ Auf die Art haben wir damals vierzig deutsche, ungarische, österreichische Schriftsteller in den Studios untergebracht.«

      Es ist inzwischen früher Nachmittag, und Paul Kohner macht einen leicht erschöpften Eindruck. Doch das Erzähltalent des alten Herrn lässt sich von physischer Schwäche nicht beeindrucken. Amüsiert erinnert er sich, wie Thomas Mann ein Jahr lang kein Wort mit ihm gesprochen hat, weil der oberste Dichterfürst dieses Neuen Weimar am Pazifik zu der Feier von Albert Bassermanns achtzigstem Geburtstag nicht eingeladen worden war, die in Kohners Haus stattfand. Ein paar Minuten später höre ich von einem Treffen mit dem mysteriösen Klienten, der B. Traven war, sich aber als dessen Cousin ausgab; kurz darauf von den Begegnungen mit Bert Brecht, der Kohner nie recht geheuer erschien.

      »Paul Kohners freundlich-helle Agentur am Sunset Boulevard«, schrieb die New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau am 4. Oktober 1940 in einer Hollywood-Reportage,

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