Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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style="font-size:15px;">       Am frühen Nachmittag rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, den die Menge bei einer wässrigen Kartoffelsuppe störte, von einem Fenster des Reichstags: »Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik!«

       Als SPD-Chef Friedrich Ebert, der seine Suppe derweil weitergelöffelt hatte, von Scheidemanns Tat hörte, reagierte er äußerst wütend auf die unvorschriftsmäßige Eigenmächtigkeit. Fast zufällig und gleichsam um Entschuldigung bittend war die Republik ins Leben getreten - beim ersten Mal jedenfalls.

       Denn um halb fünf unternahm um die Ecke vom Reichstag Karl Liebknecht, der Führer der Kommunisten, eine Reprise: »Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Das Alte ist nicht mehr. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.« Liebknecht wies auf das Hauptportal des Berliner Schlosses und rief mit erhobener Stimme: »Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!«

       Im Nachmittagswind flatterte sie dann von zahllosen Dächern der Reichshauptstadt: vom Brandenburger Tor, vom Marstall und vom Kronprinzenpalais. Diese Gebäude hatte das Volk dem Schutze der Revolution unterstellt. Bewaffnete Arbeiter hielten Wache.

       Zugleich aber machte sich so etwas wie Ratlosigkeit breit. Was war nun noch zu tun? Zielloses Gedränge bestimmte den Abend, Verbrüderung, gedämpfte Volksfeststimmung. 92

      »Da«, sagt Sabine Bergmann-Pohl und deutet auf ein links gelegenes Stück Fassade, das beim Abriss des Schlosses durch die SED-Regierung verschont wurde: »Von dem Balkon aus hat am 9. November 1918 Karl Liebknecht die Republik ausgerufen. Dort ist jetzt mein Amtssitz als amtierender Ministerpräsident.«

       Kurz nach elf Uhr am Vormittag des 9. November - es war der Jahrestag von Napoleons Staatsstreich im Brumaire des Jahres 1799 - zogen zwei- bis dreitausend Mann vom Bürgerbräukeller am Südufer der Isar in Richtung Stadtmitte. Adolf Hitler marschierte in der ersten Reihe, mit ihm General Ludendorff und Hermann Göring. Die meisten Männer waren bewaffnet, Hitler selbst hielt eine Pistole in der Hand. Nur die Anführer wussten, dass damit ein letzter verzweifelter Versuch unternommen wurde, durch Bluff den schon fehlgeschlagenen Putsch doch noch in einen Sieg zu verwandeln.

       In den Straßen drängten sich die Menschenmassen. Als der Zug die Ludwigbrücke erreicht hatte, lief einer der Nationalsozialisten voraus und rief dem Polizeioffizier zu: »Nicht schießen! Ludendorff und Hitler kommen!« Gleichzeitig schrie Hitler: »Ergebt euch!«

       In diesem Augenblick fiel ein Schuss, und gleich darauf fegte ein Hagel von Geschossen über die Straße. Als erster wurde ein Mann getroffen, der mit Adolf Hitler Arm in Arm gegangen war. Hitler fiel, entweder von seinem Begleiter mit herabgezogen oder Deckung suchend.

       Alles war in Verwirrung, ein Nazi-Führer lehnte sich gegen eine Hauswand und weinte hysterisch. Die Mehrheit der Prominenz, Hitler vorneweg, floh im Feuer. Nur Göring und ein anderer Nazi-Führer wurden verletzt. Die übrigen Verwundeten und auch die sechzehn toten Putschisten hatten sich auf dem Marsch in den hinteren Reihen befunden. Sie waren den Schüssen der Polizei ausgesetzt gewesen, weil ihre Führer sofort Deckung gesucht hatten. 93

      Es ist kurz nach elf, Donnerstagabend. Ich liege im Bett und vergnüge mich damit, durch die Fernsehkanäle zu flippen. Eine Sondermeldung unterbricht das Programm von AFN, dem amerikanischen Militärsender: Die Mauer sei gefallen. In den ZDF-Nachrichten ist davon keineswegs die Rede gewesen. Die Amis haben mal wieder alles falsch verstanden. Außenpolitik fünf. Fleißig, aber untalentiert, man kennt das.

      Im Dritten läuft eine Talkshow, die meine Programmzeitschrift nicht verzeichnet. Der Moderator scheint leicht angeshakert. Einer der Gäste ist der Berliner Bürgermeister Momper, und der erhebt sich jetzt, beim x-ten Drüberflippen, gerade von seinem Stuhl. Ein Skandal!? Ich flippe zurück.

      Der Gesprächsleiter nuschelt irgend etwas von Verständnis für die Situation. Momper sagt, er müsse zu den Übergängen, da sei die Hölle los.

      Ich stehe auf, ziehe mich an und mache mich auf den Weg. Die nächstgelegene Kontrollstelle ist die Invalidenstraße.

       »Berlin Nr. 234404 9.11.2355 - An alle Stapo-Stellen und Stapo-Leitstellen / An Leiter oder Stellvertreter ... Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20000-30000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht. ... Gestapo II Müller.« 94

       Stunden später, am Abend des 9. November 1938, polterte ein SA-Scharführer in das Schlafzimmer einer jüdischen Familie. Dr. Goldstein und seine Frau standen, aufgeschreckt durch den Lärm und die Auseinandersetzung vor der Tür, schon neben ihren Betten.

       »Ich bin angewiesen«, sagte der Scharführer zögernd, die Pistole in der Hand, »einen schweren Auftrag durchzuführen.«

       Ruhig antwortete Frau Goldstein: »Mein Herr, schießen Sie, bitte, gut!« und da schoss er. 95

      Kurz vor Mitternacht trete ich aus der Haustür. Auf Alt-Moabit kommen mir zahllose Fußgänger entgegen. Nicht nur ihre Menge um diese Uhrzeit ist ungewöhnlich. Auch in ihrer Kleidung und in ihren Bewegungen irritiert mich etwas, das ich nicht auf Anhieb einordnen kann. Die Menschen strömen aus der Richtung des Gefängnisses in der Lehrter Straße, und ich habe plötzlich den unsinnigen Gedanken, ein Massenausbruch könnte stattgefunden haben. Vor dem ersten Trupp wechsele ich spontan vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und bleibe dort, bis ich meinen wenige Meter weiter geparkten Wagen erreiche.

      Trotz der Fernsehszenen, die mich aus dem Bett gelockt haben, verfalle ich erst im Stau vor dem Übergang Invalidenstraße auf den Gedanken, dass es sich bei den Menschen, die die Straßen bevölkern und von denen viele mit schnellen Schritten in Richtung City marschieren, nicht nur um West-, sondern bereits auch um Ostberliner handeln könnte. Die Vorstellung allein scheint mir - aufgewachsen in der Zeit nach dem Mauerbau - vollständig verrückt.

       In Berlin beginnt der Pogrom gegen 1 Uhr nachts. Fachgerecht hat man zuvor die jüdischen Hauptgebäude isoliert, die Telefonleitungen abgeschnitten, die Strom- und Heizanlagen abgestellt. Die Polizei leitet den Verkehr um. Ordnung herrscht, als sieben große Synagogen der Hauptstadt in Brand gesetzt werden, darunter die in der Fasanenstraße.

       »Warum spritzen Sie nicht«, ruft der herbeigeeilte Oberkantor Davidsohn den Feuerwehrleuten zu, die mit leeren Schläuchen dastehen.

       »Was wollen Sie denn hier?« erwidert der Feuerwehrhauptmann. »Sie werden hier nur totgeschlagen.«

       »Ich war an dieser Synagoge 27 Jahre tätig.«

       »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, wir sind nur hier, um die Nachbarhäuser zu schützen.«

       »Um Gottes Willen, ich möchte wenigstens noch das Nötigste heraussuchen.«

       Doch plötzlich sieht der Kantor den Synagogenpförtner Wolfsohn blutüberströmt im Hemd in den Hof laufen. Da der Pförtner sich weigert, die Schlüssel auszuhändigen, wird er bis aufs Blut geprügelt.

       SA-

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