Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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screwball comedies, Anti-Nazi-Klassiker.

      Gehörte der Studientag daher der Kritischen Theorie und ihrem Verdikt über Kulturindustrie, so verbrachte ich, als zeige der Abwehrkampf gegen die Versuchungen mit hereinbrechender Dunkelheit gewisse Ermüdungserscheinungen, die »Night in Casablanca«. Es mag unglaublich klingen, aber es vergingen lange Monate, bis ich endlich realisierte, dass die kanonischen Texte zur Massenkultur, an denen ich mich abarbeitete, zum überwiegenden Teil zur selben Zeit und am selben Ort entstanden waren wie die Werke der Traumfabrik, die sie - neben vielem anderen, versteht sich - verdammten; dass für die Analysen also gewissermaßen Erfahrungen mit Hollywood aus erster Hand verantwortlich waren, die die Autoren während der dreißiger und vierziger Jahre in Amerika gesammelt hatten.

      Kurzum: auf diesem Weg erfuhr ich, ein zwanzigjähriger Nachkriegsdeutscher, allererst von der historischen Tatsache des großen Exodus nach 1933, ich »entdeckte« das Exil. (Das Schimpfwort Emigrant in Zusammenhang mit der »unbewältigten Vergangenheit« hatte ich bis dato nur aus dem tagespolitischen Kontext gekannt, wo es Willy Brandt traf, der, wie die üble Nachrede wollte, es »gewagt hatte, in einer norwegischen Uniform deutschen Boden zu betreten«.)

      Noch einmal brauchte es dann einige Zeit, bis ich, wieder sehr überrascht, in Erfahrung brachte, dass auch die nächtlich genossenen Filme zu einem großen Teil das Werk von Flüchtlingen aus dem deutschen Kulturraum waren, dass etwa zum Entstehen des düsteren Stils der bewunderten »Schwarzen Serie«, die sichtlich dem deutschen Stummfilmexpressionismus viel verdankt, Hunderte von Emigranten beigetragen haben, als Autoren und Regisseure, Techniker und Produzenten, Kameramänner und Cutter, als Set-Designer, Beleuchter und auch als Schauspieler in unzähligen Nebenrollen.

      Ein seltsam doppelter Umweg ließ mich so - am Beispiel meiner eigenen »Bildung« durch Kritische Theorie und Hollywood - die öffentlich kaum diskutierte Nachwirkung des Exils auf die bundesrepublikanische Gegenwart erkennen. Und auf einem weiteren Umweg über die Weimarer Kultur, die 1933 fast geschlossen Deutschland verlassen musste, stieß ich schließlich auf die literarische Form, in der ich die »Reise in die Verlorengegangenheit« erzählen konnte.

      Nachhaltiger als jede andere Sparte der Literaturproduktion wurde die Reportage, wie sie in den zwanziger Jahren ihre Blüte erlebte, durch das Exil betroffen. Denn diese Art des Schreibens ist eine soziale Kunst. Reportagen verfasst man nicht im kleinen Kämmerlein und für die Schublade. Ihr Autor, will er sein Schreibziel erreichen, ist in höherem Maße als etwa ein Lyriker auf unmittelbare Publikation angewiesen. Seine Texte zehren von der Gegenwart und sind, wie hoch auch ihre aktuellen Ewigkeitswerte steigen mögen, der zeitgenössischen Wirkung verfallen. Für die Entfaltung einer lebendigen Reportagetradition ist conditio sine qua non daher erstens das Vorhandensein publizistischer Organe, welche die Reportage pflegen.88

      Zweitens notwendig ist ein zahlenstarkes Lesepublikum, das sich nicht nur für das interessiert, was die große Reportage gegenüber anderen literarischen und journalistischen Erzählweisen leistet, sondern das auch in der intellektuellen Lage ist, mit der nicht unkomplizierten Form zu Rande zu kommen: der tendenziellen Offenheit des Mischgenres, der Freiheit zu Reflexionen und Abschweifungen, der schnellen Montage heterogener Elemente, dem Gebrauch »fiktionaler« Techniken bei der Darstellung von »wirklichen« Ereignissen.89

      Diese Abhängigkeit von demokratischen Verhältnissen und einer entwickelten publizistischen Landschaft machte die Kunst der Reportage im Exil, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, kaum lebensfähig.90 Exilliteratur hat Hans Magnus Enzensberger einmal als Beispiel einer »Literatur auf Verdacht« beschrieben.91 Reportagen aber entstehen selten auf Verdacht. Die Tradition kritischer Publizistik brach mit der nationalsozialistischen Machtübernahme abrupt ab. Ihr Ausfall hat sowohl die Kultur des Exils als auch später die der Nachkriegszeit negativ geprägt. Denn die Form ist wie kein anderes Genre geeignet, historische Umbruchsituationen zu erfassen: Entstanden »aus dem Ungenügen der Literatur an sich selbst«, so Erhardt Schütz, stellt die Reportage einen »vorgeschobenen Punkt« in der Formulierung des literarisch noch nicht Fixierten dar. Was sie nicht zur Sprache bringt, bleibt lange von Schweigen betroffen.

      Die Begegnungen mit deutschen Emigranten konfrontiert der Verlauf meiner Reportagereise auf den Spuren des Exils mit Interviews aus dem Berlin der Gegenwart, dem exponierten Außenposten des »untergehenden« Westdeutschland. Dieses Stimmen- und Stimmungskonzert Berliner Schnauzen begleitet, gewissermaßen als intellektueller »Chor«, die Reise in die Verlorengegangenheit. In dem knappen Dutzend Gesprächen, die ich mit West- und Ostberliner Künstlern, Kulturpolitikern und Wissenschaftlern über die Vergangenheit von Exil und Kulturvernichtung sowie die Chancen und Gefahren einer »vereinigten« Zukunft geführt habe, verschränken sich die Umwälzungen der Jahreswende 1932/33, als die deutsche Teilung begann, mit der »Revolution« von 1989/90, die diese Teilung zu beenden scheint.

      Von einer eigentümlich kribbeligen Atmosphäre zeugen die meisten Interviews. Durch die Stadt wehte im Winter und Frühjahr 1990 ein frischer Wind, der den Mief der Mauerjahre zu verscheuchen schien: als habe das Leben einen Tritt bekommen und laufe nun schneller. Insofern sind die Gespräche auch Dokumente eines historischen Zustands, der nicht anhielt und nicht anhalten konnte. Unverändert gegenwärtig - da von der Geschichte nicht entschieden - sind jedoch die Themen der Interviews. In seiner Gesamtheit, für die der Berichterstatter nur begrenzt verantwortlich zeichnet, stellt der Chor Berliner Schnauzen eine kollektive Reflexion auf den gegenwärtigen Stand des Bewusstseins dar.

      Von ihm nimmt die Bildungsreise in die Geschichte der eigenen Kultur ihren Ausgang.

       10

      Novemberverbrechen • »Ich bin abends zu einer CDU-Freundin gegangen, und wir haben das bewusste Interview mit dem Schabowski im Fernsehen gesehen«, sagt Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der Volkskammer und amtierendes Staatsoberhaupt der DDR. Wir sitzen in ihrem Arbeitszimmer im Ostberliner Palast der Republik. Frau Bergmann-Pohl verstand Günther Schabowski so, wie er seine Auskünfte meinte: als relativ unverbindliche Absichtserklärung, als Wechsel auf zukünftige Erleichterungen: »Privatreisen nach dem Ausland können«, sagte der SED-Sprecher und Krenz-Vertraute um 19 Uhr wörtlich, »beantragt werden. Reiseerlaubnisse werden kurzfristig erteilt.« Nicht mehr und nicht weniger.

      »Ich bin ziemlich spät nach Hause gekommen«, erzählt die Präsidentin weiter, »mein Mann hat Fußball gesehen. Im Schlafzimmer steht auch ein Apparat, und ich bin davor eingeschlafen. Irgendwann wurde ich wach und habe gedacht: Was ist denn da im Fernsehen los? Ein Theater! Aber ich war im ersten Schlaf und hab‹ ausgeschaltet. Am nächsten Morgen sagt mein Sohn zu mir: ›Oma hat in der Nacht angerufen, aber ich hatte keene Lust euch zu wecken.‹ Halb sieben morgens rufe ich sie also an. Sagt sie: ›Die Mauer ist auf.‹ Ich: ›Du spinnst!‹ Sie: ›Ich war selbst da.‹ Meine Schwiegermutter ist fünfundsiebzig! Die war spontan losgefahren. Erst langsam wurde mir klar, das ist eine Sache, die kein Mensch vorausgesehen hat. Die Leute haben diese Pressemitteilung missverstanden, sind losgerannt, und die an der Grenze wussten sich keine andere Wahl mehr und haben gesagt: ›Na, nun machen wir das Ding auf.‹«

       An diesem verhangenen, fast milden Novembertag waren die Straßen schwarz von Menschen, ein wogender Ozean von Leibern. Niemand hat die Demonstranten gezählt, aber die Augenzeugen sprechen von Hunderttausenden. Alle waren darauf gefasst, in die Maschinengewehrsalven der Armee zu marschieren. Die Männer in den vorderen Reihen trugen an langen Stangen befestigte Pappschilder: »Brüder, nicht schießen!« - »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Monarchie!« - »Wir wollen Frieden und Brot!« Rote Papiernelken, Rosetten und Bänder, die von fliegenden Händlern angeboten wurden, fanden reißenden Absatz. In den hinteren Reihen aber gingen auch viele Bewaffnete mit.

       Und dann geschah - nichts. Die Soldaten öffneten die Kasernentore und liefen zu den Aufständischen über, die Polizisten im Alexanderplatz-Präsidium schnallten ihre

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