Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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Flucht aus Deutschland, quer durch die Alte und in die Neue Welt - das war doch keine Bildungsreise! Was denn? Bürgerliche Bildungsreisen führten nicht in exotische Gebiete; darin blieben sie der adligen Kavalierstour gleich,78 von deren Nachahmung sie ausgingen. Neues zu erforschen, war den staatlich geförderten Eroberungs- und Entdeckungsfahrten reserviert, mit denen sich Europa den Rest der Welt unterwarf. Auf der Bildungsreise hingegen, wie sie im deutschen Sprachraum während des 18. Jahrhunderts zur Institution wurde, sollte vom jugendlichen Individuum lange Bekanntes »erfahren« werden: Italien oder weitestenfalls Griechenland. Und auch in diesen Zielländern galt das Interesse kaum dem, was sie vom Herkunftsland unterschied, dem Volksleben und der Folklore. Die Ablenkung vom eigenen Alltag, die als Motiv hinter dem Massentourismus von heute steht, vermerkte das Konzept der Bildungsreise - gewiss nicht selten im Gegensatz zu ihrem realen Verlauf - als unerwünschte Begleiterscheinung.

      Die weitgehende Missachtung, die der lokalen Gegenwart der besuchten Gebiete entgegengebracht wurde, bedeutete jedoch keineswegs, dass die Bildungsreisenden archäologische Studienfahrten angetreten hätten. Ihr Interesse war nur begrenzt historisch. Vorrangig sollte nicht einem Mangel an geschichtlichem Wissen, sondern einem höchst aktuellen Bedürfnis nach Orientierung abgeholfen werden.

      Die Reisenden, Pilger eines aufgeklärten Kultes, beziehungsweise ihre zahlenden Eltern erhofften nicht allein den Zuwachs an Kenntnissen. Angestrebt war eine Art weltlicher Erleuchtung, eine drastische Vollendung der bürgerlichen Persönlichkeit.79 Die Wallfahrt zu den steinernen Überresten der Antike beabsichtigte das Nach-Erlebnis von Bildung. Idealiter strebte man ein besseres Verständnis der eigenen Standards an. Einer Initiation gleich, sollte die Bildungsreise die Einpassung des Nachwuchses in die gesellschaftlichen Verhältnisse vollenden. An ihrem Ziel wurden daher die historischen Orte jener Kultur aufgesucht, als deren legitime Nachfahren sich die Bürger wähnten und in deren Tradition sie die Nachkommen einführen wollten. Die Ruinen der vergangenen Epoche dienten lediglich als Kulisse, in der die gewünschte Vergegenwärtigung klassischer Kultur stattfinden konnte - wie man diese selbst für den geistigen Hintergrund nahm, vor dem sich das Drama der Gegenwart abspielte. Das Konzept der Bildungsreise zielte so letztlich weniger auf die Überwindung einer räumlichen als einer zeitlichen Entfernung. Das Moment der Rückübersetzung, der Regression auf eine aufklärerisch bereits überwundene Raum-Zeit-Konstellation, ist darin zu erkennen. »Mühselig und widerruflich«, schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Interpretation der frühesten aller beschriebenen Selbst-Festigungsfahrten, der Abenteuer des Odysseus, »löst sich im Bild der Reise historische Zeit ab aus dem Raum, dem unwiderruflichen Schema aller mythischen Zeit.«80

      Diesen Prozess machten die Bildungsreisen gewissermaßen rückgängig, indem ihr Konzept epochale Distanz, da prinzipiell unaufhebbar, in den Raum als geographische, also überwindbare Entfernung projizierte: An den Entstehungsorten der klassischen Kultur sollte dem Nachwuchs-Subjekt, das in ihrem Geiste erzogen wurde, die gegenwärtige Erfahrung des vergangenen Ursprungs gelingen.

      In dem existentiellen Sinn, den sie so stiftet, erweist sich die Institution der bürgerlichen Bildungsreise als ein Spezialfall der grundsätzlich engen Verschlingung von Erkenntnis und Mobilität. Denn in der Reise hat das moderne Individuum die zentrale Metapher für seinen Weg durch die Welt gefunden, einen Weg, der mit jedem Schritt vorwärts näher heranführt an die verschütteten Möglichkeiten der eigenen Herkunft.

      Die Flucht aus Deutschland, den Irrweg quer durch Europa, der schließlich in den USA endete, als die moderne Variante einer Bildungsreise zu behaupten, mutet zynisch an. Und doch legen Hunderte von Autobiographien Zeugnis ab von der Nachhaltigkeit der »negativen Bildungserlebnisse«, die Vertreibung und Flucht erzeugten, aber auch von den »positiven«, die bisweilen der erzwungene Kontakt mit fremden Lebens- und Denkweisen mit sich brachte.

      »Eine Welt, die Welt meiner Kindheit, meiner Jugendjahre, die Welt des Rechts, der Moral, der Achtung vor dem Nächsten war zusammengebrochen«, schrieb Gottfried Bermann Fischer.81 Bei Elsbeth Weichmann, der Frau des sozialdemokratischen Politikers und späteren Hamburger Bürgermeisters Herbert Weichmann, heißt es: »Mit der Emigration war auch ein Weltbild zusammengebrochen ... Das Menschenbild, an das wir geglaubt hatten, war zerstört.«82 Und Adorno resümierte in seinen Exil-»Reflexionen aus dem beschädigten Leben«: »Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen ... Enteignet ist seine Sprache und abgegraben seine geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog.«83

      Ebenso viele autobiographische Zeugnisse - und nicht selten dieselben - schildern das »positive Bildungserlebnis« des Exils, das wesentlich in einer Kosmopolitisierung des national eingeengten Bewusstseins bestand: »Die Welt, in der wir lebten, wurde immer größer«, erinnerte Elsbeth Weichmann: »Die Emigrantennotgemeinschaft wuchs auf diese Weise mit den Jahren zu einer Weltgemeinschaft und entwickelte ein Weltwissen, das aus vielen von uns Weltbürger machte«84. Auch der Sozialwissenschaftler Leo Löwenthal beobachtete an sich selbst die »Ausweitung meines Horizonts«: »... ich fühle mich viel kosmopolitischer, vielmehr ein Mann der Welt, als ich das je in Deutschland gefühlt habe oder vielleicht fühlen würde.«85 Sein Freund Adorno reflektierte die amerikanische Zeit: »Kaum ist es übertrieben, dass ein jegliches Bewusstsein heute etwas Reaktionäres hat, das nicht, sei es auch mit Widerstand, jene Erfahrung sich wahrhaft zugeeignet hätte.«86 Und der Sozialwissenschaftler Adolph Lowe stellte schlichtweg fest, erst in den USA habe er erkannt, »wie provinziell mein Gesichtskreis war in den ersten vierzig Jahren meines Lebens, in denen ich auf meine Weise auch überzeugt war, dass am deutschen Wesen die Welt genesen müsse«87.

       9

      Reisekostenabrechnung • Auch diese Reise auf den Spuren des deutschen Exils ist eine Bildungsreise. Sie folgt dem historischen Muster: Ihr Ziel sind nicht exotische Orte, sondern das bessere Verständnis des eigenen Alltags; als Fahrt durch die Zeit führt sie vorrangig an Orte der Geschichte, um an ihnen zu besichtigen, was in unserer Zukunft wichtig werden sollte; und wie bei Bildungsreisen üblich, begannen die Vorbereitungen früh.

      Stück für Stück sammelte ich, wohl schon während der Schulzeit in den sechziger Jahren, als ich das Reiseziel noch gar nicht kannte, mein Gepäck, aus zunächst unverständlichen Beobachtungen, aus zufälligen Erlebnissen und hingeworfenen Bemerkungen, die Verdacht weckten, aus der Wattemauer des Schweigens, mit der die Älteren fast alles umgaben, was ihre Vergangenheit vor 1945 betraf, und aus der Redseligkeit, mit der Nachfragen nicht beantwortet wurden.

      Den entscheidenden Anstoß allerdings, der mich den Plan zu der Reise fassen ließ, gab eine eigene »Entdeckung« zu Beginn meines Studiums. Allein schon, dass ich sie machen konnte - dass mir also dreizehn Schuljahre zuvor diese simple Tatsache nicht vermittelt hatten -, beweist die Verlorengegangenheit als Teil einer ungeheuren Verlogenheit.

      Zwei neue Leidenschaften veränderten damals, in den frühen siebziger Jahren, mein Leben. Ich begann - darin als verspäteter einzelner nachholend, was die kritische bundesdeutsche Intelligenz in den anderthalb Jahrzehnten zuvor als Gruppe absolviert hatte - meinen Weg durch die »Frankfurter Schule«; das heißt durch ein kulturelles Klima, welches von den Theorien in ihrem Umkreis, dem Denken von Horkheimer und Adorno, aber auch von Marcuse, Löwenthal und dem frühen Kracauer getragen wurde. Genauer trifft vielleicht die Rede von der »Suhrkamp Kultur«, da sie Brecht, Benjamin und Bloch mit einbegreift. Besonders faszinierten mich die frühen Analysen der Massenkultur, Kracauers filmtheoretische Schriften, Benjamins »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno.

      Dieses Interesse hatte seinen Grund in der Affinität zur zweiten neuen Leidenschaft. Viel Zeit verlebte ich in den sich gerade wie die Kneipen vermehrenden Filmkunstkinos. Sie bestritten ihr Programm zu einem nicht unwesentlichen Teil mit Erst- und Wiederaufführungen von Filmen, die in den dreißiger und vierziger Jahren

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