Brothers in Crime. Wolfgang Pohrt
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Ein anderer »autentico«, Andreas Baader, starb zu früh. Lebte er noch, hätte er eine Aufgabe vor sich. Vielleicht wäre der RAF-Kämpfer heute der richtige Mann, mit altem Eifer und neuen Überzeugungen dem Land die nötige Blut–, Schweiß- und Tränenkur zu verpassen, die von der amtierenden Regierung zerredet wird.5 Es scheint das Schicksal der Revolutionäre im Spätkapitalismus zu sein, dass sie im günstigsten Fall nach oben kommen, raus aber nie.
Reviere
Kurz vor Jajce, berichtete vom Balkan die FAZ (am 14.9. 1996), verlaufe das, »was im Jargon der Friedensstifter Inter-Entity Boundary Line heißt, abgekürzt IEBL. Diese innere Demarkationslinie zwischen Republika Srpska und Föderation ist mehr als tausend Kilometer lang. Dem Buchstaben des Friedensvertrages zufolge ist die IEBL nicht mehr als die unsichtbare Linie zwischen zwei Verwaltungsbezirken und darf von den örtlichen Polizeien nicht überwacht werden. In Wirklichkeit wagt sich kaum ein Kroate oder Bosniake auf serbisches Gebiet und kaum ein Serbe in die Föderation.«
Aber nicht wegen der Gefahr allein, denn das Risiko hatten die Menschen in Jugoslawien gesucht, statt es zu meiden, andernfalls hätten sie keine Sezessionskriege und Bürgerkriege geführt. Ihr Elend besteht darin, dass nunmehr hinter der Grenze kein Neuland ist, sondern noch einmal dasselbe. Das Kämpfen, ihr Hauptspaß, macht keine Freude mehr, weil der Eroberer sich wie der Hamster im Tretrad fühlen muss, der unentwegt »no place to run, no place to hide« murmeln würde, wenn er sprechen könnte. Denn alle Wege führen dorthin, wo er herkam. Er bleibt in Bosnien, und wie Bosnien ist die Welt.
Mit Grenzen hatte sich einmal die Vorstellung verbunden, dass »hinter den Bergen bei den sieben Zwergen« eine andere Welt beginne. Dort, so die Hoffnung, würde man eine Art von Schönheit finden, wie sie selbst die Schönen und die Reichen in dieser Welt nicht besitzen können, weil sie durch Härte und Gemeinheit verunstaltet sind. Dergleichen Hirngespinste setzten voraus, dass in der wirklichen Welt noch Gebiete existieren, wo die Ideen vor der Überprüfung durch den verifizierenden Verstand geschützt sind.
Die unbekannten, unzugänglichen Länder aber gehören der Vergangenheit an, seit alle weißen Flecken auf der Landkarte verschwanden. Auf provozierende Art erinnert daran die Cola-Reklame. Durch ihre Präsenz noch im tiefsten Elend macht die Weltmarke dem Zuschauer ihre Botschaft glaubhaft, welche heißt: »Ich erwische dich überall, du entkommst mir nie und nirgends.«
Nur der Ostblock gab sich verschlossen, undurchsichtig. Er zog die Aggression auf sich, in welche der vergebliche Wunsch nach einer Zuflucht umgeschlagen war. Aber die Ablehnung blieb ambivalent, wie in solchen Fällen immer, und es klang ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem Land »hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen« mit, wenn es abschätzig und angewidert hieß »hinter dem Eisernen Vorhang«. Der war nur keiner, wie man inzwischen weiß. Die Mauer entpuppte sich als Schleier, und als der fiel, lag dahinter die One World. Heute beginnt und endet an der Demarkationslinie daher nichts. Fast sehnt man sich zurück nach dem gehässigen »Geht doch nach drüben«, welches früher die Empfehlung der Passanten an die Demonstranten war. Die Deportationsdrohung klingt wie eine Verheißung, seit es kein drüben mehr gibt.
Wenn hinter jeder Zelle die nächste kommt, heißt das, dass man im Gefängnis ist. Allerdings hat es sich verändert. Die mächtigen Mauern, die für tatkräftige, listige Insassen immer auch ein Ansporn sind, sie zu überwinden, weil dahinter die Freiheit winkt, waren obligatorisch in der alten Zeit, wo zum Warenregal nur der Verkäufer Zutritt hatte, wo man für die U-Bahn am Schalter bezahlte und im Bus der Schaffner kam. Heute sind Sperren, Zäune und Gitter oft durch IEBLs ersetzt, durch Grenzen, an denen weder Pass noch Fahrschein vorgezeigt werden muss. Mittels Gewalt oder List durchbrechen lassen sie sich nicht. Sie sind unüberwindlich, weil das Erreichen der anderen Seite keinen Vorteil bringt.
Dergleichen imaginäre Linien haben vermutlich existiert, seit die ersten wilden Stämme aufeinandertrafen, die zwar Gebietsansprüche erhoben, aber keine Grenzbefestigungen kannten. Weil ein Stück Wald dem anderen gleicht, geschah es leicht, dass einer sich beim Jagen auf fremdes Territorium verirrte, was Strafe nach sich zog, wenn er dabei erwischt wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft aber schien Freizügigkeit allgemeines Recht zu sein. Wo der Zutritt verboten war, war er auch verwehrt.
Das änderte sich wieder, als Anfang der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts inmitten der modernen Großstadt die Herausbildung von Einflusszonen und Gebietsgrenzen geschah, die weder ausgeschildert waren noch dem Stadtvermessungsamt bekannt. Wie an Saudi-Arabiens Grenze keine Tafel darüber informiert, dass an amerikanischem Interessengebiet sich vergreift, wer in den nah-östlichen Ölförderländern wildert; oder wie in Miami kein Schild mit der Aufschrift »Achtung! Lebensgefahr! Sie verlassen jetzt den zivilisierten Sektor« den ortsunkundigen Touristen vor der Weiterfahrt in den Slumgürtel warnt, so wies im Chicago der Zwanziger Jahre kein öffentlich verkündetes und zur Einsichtnahme ausliegendes Dekret den künftigen Betreiber einer Flüsterkneipe in der Halsted Street daraufhin, dass dort eine Konzession von Al Capone benötigt würde.
Zwar waren Grenzen ohne Ausschilderung, Markierung und Rechtsgrundlage nicht ganz unbekannt. Mit der Monroedoktrin von 1823 hatten die USA Anspruch erhoben auf den ganzen amerikanischen Doppelkontinent. Den behandelten sie fortan als ihr Revier, etwa in dem Sinn zunächst, wie Hunde in einem durch Duftmarken bezeichneten Bereich keine Rivalen dulden. Anfang des 20. Jahrhunderts dann, als Kuba erobert wurde, war der Staat ein Racket in dem Sinn, dass er fremde Länder seinem Machtbereich einverleibte und sie den eigenen Interessen unterwarf. Capone hätte von McKinley gelernt haben können oder von Roosevelt, dessen Wahlspruch »Speak softly and carry a big stick« das Erfolgsrezept kluger Mafia-Bosse ist. Es war allerdings ein wechselseitiges Geben und Nehmen, insofern McKinleys politische Lehrzeit in die Jahre nach dem Bürgerkrieg fällt. Verwaltung und Regierung machten damals gemeinsame Sache mit dem kommerziell kalkulierenden Teil des organisierten Verbrechens, während der andere, mehr auf schnelle Triebbefriedigung bedachte, unterdessen Schwarze jagen ging.
Überhaupt konnte das Bandenwesen selbst keinen überraschen. Es kommt über alle Epochen hinweg so häufig vor, dass Barrington Moore lakonisch konstatierte: »In Ländern, in denen Gesetz und Ordnung schwach sind, entsteht fast immer ein Gangstertum.« (Moore 1974:255) Dessen amerikanische Anfänge haben Historiker bis ins Jahr 1719 zurückverfolgt, und schließlich waren es die Siedler – kleine Gruppen mit hoher Gewaltbereitschaft, also Banden –, denen die Nation ihre Existenz verdankt. »A history of crime in America«, schreiben daher Frank Browning und John Gerassi in The American Way of Crime, »cannot help but be a history of America, in which the sagas of the outlaw and the gangster, the rebel and the mob, the crusader and the horde, are played back again and again in counterpoint to the dominant themes of unbridled progress and prosperity.« (Browning/Gerassi 1980:13)
Nun aber sahen die Banden anders aus, nicht mehr wie die alten Outlaws und Gangster. Die kannte man als klar umrissenen und von den übrigen Bürgern deutlich unterschiedenen Personenkreis. Sie lebten in der Illegalität, sie wurden verfolgt und sie waren geächtet. Sie machten Gebiete unsicher, eine dauerhafte Herrschaft installierten sie dort aber nicht. Sie waren ungebunden, bindungslos, es fehlte ihnen die Schwere. Denn ihre Macht war flüchtig, und sie selbst waren dauernd auf der Flucht.
Davon konnte bei Capone keine Rede sein. Als 1927 der von ihm protegierte Kandidat zum Bürgermeister von Chicago gewählt worden war, quartierten der Gangsterboss und sein Stab sich als Dauermieter in 50 Zimmern eines nahe Rathaus und Polizeihauptquartier gelegenen Komforthotels ein. Beamte und Politiker sollten kurze Wege haben, denn die engen Geschäftsverbindungen erforderten regen Besucherverkehr: »Vom Polizeigebäude, das in Wirklichkeit zu einer Söldnergarnison geworden war, die sich für den höchstzahlenden Condottiere zur ständigen Verfügung hielt, kamen Polizeibeamte, um ihren Lohn