Der Ausweg. Gundolf S. Freyermuth

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Der Ausweg - Gundolf S. Freyermuth

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Vergangenheit ..., dachte er, und wusste nicht, was er denken sollte. „Meine eigene jedenfalls“, sagte er dann leise und fast fröhlich vor sich hin, „die schaff’ ich heute ab. Futsch, verloren, dahin.“

      Futsch wie der alte Pelikan, den Peter ihm vor einem Jahr zum siebenunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, mit einer echten Goldfeder und „Harry Mann“ in Sütterlin eingraviert. Aber ihn immerhin würde er wiederfinden. Am Abend bei Kellings hatte er den Füller noch benutzt, und wie. Also lag er wahrscheinlich in Gals Gästezimmer, und wenn nicht, dann musste Mann ihn bei der Heimfahrt heute morgen in Peters Cabrio verloren haben, als er das Jackett, statt es aufzuhängen, wie üblich einfach auf den Rücksitz geschmissen hatte.

      Er stieg wieder aufs Rad. Die harmlosen hohen Schornsteine am Hohenzollernkanal vor Augen, fünf dicke und zwei dünne, ließ er sich anstrengungslos hinunterrollen, zu auf das schöne neue grüne Schild mit gelbem Rand, auf dem „Wedding“ stand.

      Erst nach einem Vierteljahr hatte Anne ihm damals eine Karte geschickt, aus Kreta. Heute wohnte sie, von Kopf bis Fuß Professorin auf Lebenszeit, im schnuckeligsten Zehlendorf, wo man, was die Verniedlichung des Berliner Miefs betraf, schon wesentlich weiter war als hier oben im schäbigen Norden.

      Eine Viertelstunde später etwa, er war gerade vorbei am Volkspark Rehberge, wo das grüne Container-Klo zum Leidwesen seiner Blase ebenso besetzt gewesen war wie der Parkplatz, am Ende der Afrikanischen Straße also, senkte sich dann ein brüllender bauchiger Vogel über die farblosen Baukastenwürfel der Friedrich-Ebert-Siedlung, so tief, dass Harry Mann für einen sehr langen, sehr unangenehmen Augenblick in seine Schattenflügel eintauchte.

      Voll unliebsamer, schlechter Erinnerungen, voller Lebensreste, von denen sie wenig wussten, steckte der Alltag, und so wollte keiner in diesem Land sich gerne erinnern. Ungewusst war die eigene Zeit und doch so wenig vergessen, wie er Kelling vergessen konnte, der morgen bereits ein weiteres Stück toter Vergangenheit sein würde.

      Die Musik in Harry Manns Kopf stoppte. Er behielt die Hände am Lenker, lauschte dem Rauschen und wartete auf das Surren des Autoreverse. Er hatte diese Kassette schon Hunderte von Malen gespielt. Er wusste, womit die Rückseite begann.

      „Yesterday ...“, säuselte es aus dem Walkman. Und mit der weichen Melodie kamen andere Erinnerungen, an andere, spätere Tage, die er hier verbracht hatte, fleischrote, feuchte Erinnerungen an die wenigen heißen Teenage-Sommer vor einem Vierteljahrhundert, als er vierzehn, fünfzehn war, an tonnenschwere Kofferradios mit piepsigen Lautsprechern und Mopeds, die glatt fünfundsechzig brachten, an Kühltaschen voll lauem Bier und an volumige Bikinis, in die man nachts auf irgendeiner einsamen Wiese ganz kurz die Finger rutschen lassen konnte.

      Ohne Nachzudenken drehte er lauter. Das Lied hatte ihn mal zu Tränen gerührt, in jener vergangenen Zeit, als er noch an seine Zukunft glaubte. Jetzt fand er es lächerlich. So lächerlich wie dieses verfluchte Dorf vor Berlin! Ausgerechnet hier ging er jetzt hin und erledigte den Rest, seinen Teil, nur für sich selbst und diesmal endgültig.

      Er trat schneller in die Pedale. Eine Ewigkeit war es her, dass er Fahrrad gefahren war, und er hatte das unangenehme Gefühl, Schwielen am Hintern zu bekommen. Alt und albern und am Anfang eines neuen Lebens fühlte er sich. Vor allem alt.

      Aber alles schien ihm gut so, wie es war.

      Die Straße vor Kellings Bungalow lag samstagnachmittäglich und menschenleer in der Sonne wie all die anderen kleinen Straßen auch. Mann fuhr direkt die Auffahrt hoch und auf dem schmalen Plattenweg um das Haus herum. Das Loch hatte er schon am Morgen in die Scheibe der Terrassentür geschlagen. Er drehte den Schlüssel, der von innen im Schloss steckte, und öffnete die Tür. Dann trug er das Fahrrad die Stufen hinauf, schob es durch den Wintergarten ins Esszimmer und lehnte es an die Wand bei der Vase mit dem Schachbrettmuster.

      Die Luft in dem Raum, im ganzen Haus war stickig. Es roch nach Langeweile, nach tiefem Missmut, nach so vielen vergeblichen Versuchen, das gute Leben zu leben.

      Kalter Schweiß lief Harry Mann plötzlich die Schläfen hinunter. Er lehnte sich gegen die Glaswand des Wintergartens, erschöpft und betäubt.

      Erst als er an Gal und Kelling dachte, kam die Wut zurück, die er brauchte. Er stellte sich vor, wie die beiden hier gesoffen und gestritten hatten und sich nach Strich und Faden betrogen. Wie sie sich verbiesterten und gierig vergeudeten. Er hasste den Mann, und er liebte seine Frau. Gallathea. Eingefangen von ein bisschen Luxus. Wieder und wieder beschlafen von diesem einfallslosen Pflichtapostel, einem dieser Hauruck-Typen, dieser tumben Kriegs-Schufte und Nachkriegs-Schufter, die der allgemeine Personalmangel damals nach oben gespült hatte; ein körperliches und intellektuelles Leichtgewicht, dem es gelungen war, sich erfolgreich bis zur Pensionsgrenze durchzumogeln.

      Jetzt aber hatte es ihn erwischt.

      Rudolf Kelling lag auf den weißen Fliesen in der hintersten Ecke des kühlen Esszimmers. Gal hatte, bevor sie gegangen war, den gefesselten Körper aus der Abstellkammer dorthin geschleift und den Kachelboden gründlich gereinigt. Kellings Gesicht war blutig und geschwollen. Er zitterte und stammelte unverständlich hinter seinem Knebel.

      Die Zeit des alten Mannes lief heute ab, und die Harry Manns begann. Mit einer Viertelmillion, die Gal ihm bot, brutto gleich netto. Ein neues Leben. Auf Kellings Kosten. Endlich eine Lebensversicherung, die ihrem Namen Ehre machte.

      Mann wendete sich von dem Bündel am Boden ab. Einen Augenblick sah er hinaus in den Garten, wo der ovale Pool blau glänzte. Dann setzte er sich in einen der Bauhaus-Stühle und schob sich die Kopfhörer des Walkman über die Ohren. Der SFB brachte mal wieder Nachrichten. Bonn.

      Mann schaltete die Kassette ein. Lennon/McCartney & Co. Er drückte den Autoreverse. „Hey, Joe“, der gute böse Hendrix. Auch schon lange begraben.

      Gerne hätte Harry Mann es hinter sich gebracht, doch er musste warten. Kelling zappelte unermüdlich am Boden. Es schien so, als wollte er etwas sagen. Auf das Geseiere konnte Mann verzichten. Er sah sich um. Auf dem Tisch lag Schmuck und ein wenig Bargeld.

      Unglaublich langsam wurde es Abend. Mann konnte sich nicht erinnern, jemals auf einen Sonnenuntergang gewartet zu haben. Es war eine Tortur, und es wäre das auch ohne das lebende Paket in seinem Rücken gewesen.

      Gegen sieben klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter in der Halle schaltete sich ein. Mann lief hin und drehte laut: „Wir sind leider nicht zuhause...“, sagte die Stimme des Hausherrn vom Band. Der Anrufer legte auf.

      Mann stand in der Halle auf dem grünen Velours, an der Stelle etwa, wo sein Opfer gelegen hatte, und betrachtete die geschnitzten afrikanischen Skulpturen. Sie interessierten ihn nicht sonderlich. Er sah die breite Treppe hinauf, die er heute morgen heruntergekommen war. Er dachte an das Kaufhausfell, auf dem er und Gal sich in der Nacht geliebt hatten. Und plötzlich fiel ihm ein, was er vergessen hatte.

      Er lief hinauf in das Gästezimmer. Es war leer und aufgeräumt und frisch gesaugt. Gal hatte sorgfältig gearbeitet. Von seinem Füller keine Spur. Wenn er ihn hier verloren hatte, so musste sie ihn gefunden haben. Der Gedanke an ihre Gründlichkeit beruhigte ihn. Er ging wieder hinunter ins Erdgeschoß, durch die große Halle und in das Esszimmer, wo Kelling lag und stammelte.

      Kurz vor neun schreckte Mann zusammen, als die automatische Einbruchssicherung nacheinander die elektrischen Jalousien im Parterre herunterließ und ein paar Lampen anschaltete.

      Draußen fiel Schatten für Schatten die Dämmerung über die Bäume und verdunkelte die Freizeitlandschaft.

      Gegen elf war es endlich Nacht genug.

      Das

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