Die Kraft der Präsenz. Richard Moss
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Worum es dem Ego geht
Sie von Ihrer Besonderheit zu überzeugen – darin besteht das geheime Spiel des Ego und es kann von diesem Spiel gar nicht genug bekommen. In dem einen Moment sind Sie die oder der Beste, im nächsten Moment sind Sie nichts wert. In der einen Situation glauben Sie, Sie wüssten es am besten, in der nächsten unterwerfen Sie sich wehrlos den Vorstellungen anderer. Ob Sie in depressive oder großartige Besonderheit verfallen, hängt vom Kontext ab. Vielleicht neigen Sie in Ihrer Ehe zur Grandiosität und dominieren oder tyrannisieren Ihren Partner. Doch kaum sind Sie bei der Arbeit, schlägt dies in depressive Besonderheit um: Sie buckeln vor Ihrem Vorgesetzten und fühlen sich als Opfer.
Das Ego ist nicht etwa eine schlechte Sache – genau genommen ist es gar keine Sache. Es ist einfach ein sich ständig neu bildendes Verstandeskonstrukt, das auf der unbewussten Identifikation mit den Geschichten basiert, die Sie sich selbst (in lediglich leicht abgewandelter Form) seit Ihrer Kindheit erzählt haben. Natürlich ist jeder von uns einzigartig und insofern auch etwas Besonderes. In diesem Kontext beziehe ich mich allerdings auf die Besonderheit, die das Ego Ihnen aufdrückt. Es geht um die emotionale Ausprägung Ihres Gefühls der Getrenntheit, egal, ob Sie sich besser oder schlechter als andere fühlen. Beide Pole haben einen starken Einfluss darauf, wie Sie sich sehen und wie Sie auf Menschen und Situationen reagieren. Wenn Sie sich überlegen fühlen, neigen Sie zu Wut und Ungeduld, im umgekehrten Fall zu Konformität und Verschlossenheit.
Das Problem ist, dass wir dieses Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, nur selten durchschauen und ihm kaum entgehen können. Stattdessen verbringen wir unser gesamtes Leben damit, uns wichtig oder unwichtig, glücklich oder unglücklich (und in jedem Fall irgendwie besonders) zu fühlen – verleitet von nahezu jedem unserer Gedanken. Wir identifizieren uns unbewusst mit unseren Gedanken darüber, wer wir sind (oder nicht sind), und wir werden zu dem, was sie uns einflüstern.
Wenn es um Heilung geht, hat Ihr Ego – gelinde gesagt – nicht immer Ihr Bestes im Sinn. Es ist ihm ziemlich gleichgültig, ob Sie gesund werden oder inneren Frieden verspüren. Wichtig ist ihm allein, dass Sie sich auf irgendeine Weise besonders fühlen. So erzählt es Ihnen vielleicht, dass Sie es alleine schafften und niemand anderen bräuchten oder dass Sie besondere Aufmerksamkeit und die besten Ärzte verdient hätten oder dass Sie eine Kämpfernatur seien und allen Widrigkeiten zum Trotz siegen würden. Es wird Ihnen alles erzählen, was nötig ist, um Ihr Gefühl der Überlegenheit und Selbstgefälligkeit zu stärken. Wenn Ihr Ego es nicht schafft, Ihnen Geschichten über Ihre Überlegenheit zu verkaufen, dann sucht es eben nach solchen, die Ihnen ein Minderwertigkeitsgefühl vermitteln. Es lenkt Ihre Gedanken auf Geschichten, in denen Sie sich schwach und wertlos fühlen – eine Last und Bürde für andere, ein Versager, unattraktiv, unfähig, dumm …
Dem Ego ist es ziemlich egal, dass diese Eigenbewertungen zur Folge haben, dass Sie tatsächlich entweder selbstgefällig werden oder unglücklich. Es ist ihm egal, dass die meisten seiner Geschichten harte und extreme Urteile beinhalten. Das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutet, ist sein eigenes Weiterbestehen, und dazu müssen Sie glauben, dass Sie eine überlegene oder minderwertige Person seien.
Es geht dem Ego um Identität – nicht um Gewahrsein oder darum, wer Sie wirklich sind. Und ob Sie nun unglücklich und beschämt oder stolz und selbstgefällig sind: Jede Identität ist auf ihre Art etwas Besonderes. Das Ego kann nicht zulassen, dass Sie vollkommen präsent werden, weil es in dem Moment, in dem dies eintritt, in den Hintergrund gerät und es nur noch reines Sein oder Gewahrsein gibt. Und das versetzt Ihr Ego sozusagen in Todesangst, weil es sein Verhältnis zum Gewahrsein noch nicht verstanden hat.
Unsere „Standardeinstellungen“
Wir alle haben in Bezug auf unsere Besonderheit eine Art „Standardeinstellung“, das heißt, eine Tendenz, die meiste Zeit über entweder in der Vorstellung einer depressiven oder in der Vorstellung einer großartigen Besonderheit zu verharren:
1. Derjenige Teil der Menschen, dessen „Sollwert“ eher in Richtung Überlegenheit geht und dessen Mitglieder manchmal als „Persönlichkeitstyp A“ bezeichnet werden, verfügt scheinbar über Stärke und Macht. Aber die Körper dieser Menschen sind offensichtlich nicht sehr glücklich, denn bei Mitgliedern dieser Gruppe treten statistisch gesehen häufiger Herzkrankheiten auf. Diese Menschen reiben sich auf, um ihre Überlegenheit immer wieder neu unter Beweis zu stellen. Sie können ihr Tempo nicht drosseln und wissen nicht, wie man zur Ruhe kommt. Sie sind stets in Aktion und brauchen das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Das Ziel, auf das sie vermeintlich zusteuern, entspricht in der Regel dem Idealbild des Erfolgs in Form von Macht und Reichtum. Dennoch ist dieses Ziel unwichtiger für sie als das, wovor sie unbewusst flüchten und was die andere Seite der Medaille darstellt: Minderwertigkeit. Der „Schatten“ des Menschen, der sich überlegen fühlt, ist sein verdecktes Minderwertigkeitsgefühl. Um dieses Gefühl zu vermeiden, treibt er sich gnadenlos voran; das führt häufig zu Burn-out oder anderen Erkrankungen.
2. Menschen, deren „Standardeinstellung“ eher in Richtung des depressiven Pols tendiert, wissen häufig nicht, wie man im Leben Stellung bezieht. Sie schwächen sich ständig selbst durch den Glauben an ihre eigenen Grenzen. Dahinter steckt der Versuch zu beweisen, dass sie in ihren Einschränkungen tatsächlich etwas Besonderes sind – stärker verletzt, bedürftiger, weniger wert. Aber auch hier gibt es einen Schatten, nämlich das Überlegenheitsgefühl, mit dem sie die Welt zu einem unsicheren oder unfairen Ort erklären. Menschen mit depressiver Besonderheit sind oft kritisch denjenigen gegenüber, die Aufmerksamkeit erhalten oder erfolgreich zu sein scheinen. Häufig glauben sie, das Leben schulde ihnen etwas. Ihr verborgenes Überle genheitsgefühl zeigt sich darin, dass sie meinen, man müsse sich um sie kümmern, oder in der Art und Weise, wie sie andere und sich selbst verurteilen und Schuldzuweisungen verteilen. Sie glauben, gefangen und hilflos zu sein, unfähig, ihr Leben zu ändern. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das sich durch die Geschichten des Ego aufgebaut hat, ist eine der schlimmsten Formen von Belastung. (Es gibt allerdings auch ein Gefühl der Machtlosigkeit, das – im Gewahrsein empfunden – sehr wichtig für die geistige Gesundheit sein kann. Die Natur dieses komplexen Gefühls – und wie Sie damit umgehen können – wird in einem späteren Kapitel behandelt.)
Beide Arten von Besonderheit stellen eine Art von Ungleichgewicht dar, das Stress, Übermüdung und eingeschränkte Lebendigkeit zur Folge hat. Wenn Sie wirklich um Heilung bemüht sind, sollten Sie darauf achten, wann Ihr Ego Sie in Richtung der depressiven oder großartigen Besonderheit schiebt. So haben Sie die Möglichkeit, zum gegenwärtigen Moment zurückzukehren und aus Ihrem natürlichen Wesen heraus wieder von vorn zu beginnen – was sofort zu einem stärkeren Gleichgewicht führt.
Sie haben die Wahl – zwischen Ego und Gewahrsein
Das Ziel dieses Buches besteht darin, Ihnen die Wahl zu geben, ob Sie sich von Ihrem Ego steuern lassen oder sein Spiel durchschauen wollen. Es ist eine Wahl zwischen verstärktem Stress und Leiden (die das Gefühl der Besonderheit unvermeidlich mit sich bringt) einerseits und der Ganzheit des Seins andererseits, die sich einstellt, wenn Sie präsent sind und sich nicht dem widersetzen, was gerade passiert. Sobald Sie einmal verstanden haben, dass der einzige Zweck Ihres Ego darin besteht, dass Sie sich besonders fühlen, können Sie beginnen, sich aus seinem Griff zu befreien. In Kapitel 4 werden Sie eine wirkungsvolle Methode kennenlernen, die es Ihnen nicht nur ermöglicht, jederzeit ins Jetzt zurückzukehren, sondern die Sie gleichzeitig die vielen Muster, Reaktionen, Angewohnheiten und Strategien erkennen lässt, die Ihr Ego einsetzt, um Ihre Besonderheit immer wieder zu bestätigen. Sobald Sie ein wenig Abstand von diesem grundlegenden Ego-Muster gewonnen haben, werden Sie erkennen, wie ermüdend es ist, und Ihre Lebenskraft schnell wieder zurückgewinnen.
Jetzt werden Sie vielleicht sagen beziehungsweise denken, Sie seien doch gar nichts Besonderes und Sie sähen sich selbst auch nie