Die Kraft der Präsenz. Richard Moss

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Kraft der Präsenz - Richard Moss страница 14

Die Kraft der Präsenz - Richard Moss

Скачать книгу

Diese letzte Komponente, das Ausdehnen des Gewahrseins, ist besonders wichtig, denn wenn man sich auf den Schmerz fokussiert, dann neigt er dazu, sich zu verstärken, sofern man nicht gleichzeitig ein Gefühl der Ausdehnung oder Weiträumigkeit hinzunimmt. Als sie den Schmerz fühlte, schlug ich ihr vor, damit so in Kontakt zu gehen, als spüre sie ihn zum ersten Mal und mache somit eine ganz neue Erfahrung.3

      Plötzlich hatte meine Freundin eine Vision von einem dichten, dunklen Wald aus „Bäumen“, die aus etwas bestanden, was sie nicht beschreiben konnte. Die ganze Szene spielte sich in einer Unterwasserlandschaft ab und sie empfand an dem Ort eine merkwürdige Kraft. Nach einigen Minuten konnte ich spüren, dass sie nicht mehr in der Gegenwart war. Ich fragte sie, wohin sie abgedriftet sei, und sie erklärte, sie versuche, eine Verbindung zwischen dem Schmerz und der Vision herzustellen. Anders gesagt, sie analysierte und hatte sich damit von der Unmittelbarkeit der Vision entfernt. Außerdem hatte sie sich von ihrem Verstand in die Vergangenheit befördern lassen. Also forderte ich sie auf, zu ihrem Bild und der „seltsamen Kraft“ zurückzukehren. Ich sagte, sie solle jede Erwartung in Bezug darauf, wohin dies führen könne, loslassen und einfach nur bei ihrem inneren Erleben bleiben. Kurz darauf begann sie, leise zu schluchzen. Sie sprach von einem Gefühl der Wärme, das in ihr hochstieg, speziell im Brustraum, und die Vision des Unterwasserwaldes löste sich auf. Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Schmerzen komplett verschwunden waren.

      Die Schmerzen blieben nahezu eine ganze Woche lang aus und während dieser Zeit fühlte sie sich emotional erstaunlich gut. Es war keine komplette Heilung, aber es macht etwas sehr Wichtiges deutlich: Das grundlegende Glaubenssystem meiner Freundin baute darauf auf, dass sie nur die richtige Ursache für das Problem und die richtige Therapie finden müsse, um wieder gesund zu werden. Dies versetzte sie ständig in eine erdachte Zukunft, in der es ihr nach dem Finden der richtigen Behandlung wieder gut gehen würde. In ihrer Vorstellung würde sie wieder so sein, wie sie sich in Erinnerung hatte, bevor die Schmerzen einsetzten.

      Nun jedoch hatte sie gelernt, dass eine Reise in ihr Erleben in vollem Gewahrsein und unter Zurücklassen der Vergangenheit und der Zukunft ebenfalls eine Erleichterung bringen konnte. Ein weiterer interessanter Aspekt war, dass dies auch zu einem besseren emotionalen Gleichgewicht führte. Sie hatte einen neuen Weg eingeschlagen – einen Weg der Nähe zu sich selbst im Jetzt –, bei dem die Ursache ihres Problems unwichtig und das Erzielen eines gewünschten Ergebnisses sogar kontraproduktiv waren.

      Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass sich meine Freundin auf einem Weg der emotionalen Befreiung und vielleicht auch der körperlichen Heilung befindet – sofern sie lernt, diese Reise zum Gewahrsein jedes Mal anzutreten, wenn Schmerzen oder andere schwierige Gefühle ihren Verstand dazu bringen, in die Vergangenheit oder Zukunft abzuschweifen.

      Symptome lassen sich mit Präsenz umwandeln

      Die Beispiele von den beiden Frauen, die ich hier geschildert habe, zeigen, wie man mit jedem Gefühl umgehen kann, indem man präsent ist und mit Gewahrsein Zugang zur Unmittelbarkeit des eigenen Seins findet. Auch wenn Ihnen viele Ihrer Empfindungen Probleme bereiten, sollten Sie sie nicht einfach als Krankheitssymptome bezeichnen, denn dadurch berauben Sie sich der Möglichkeit, sie unmittelbar in der Gegenwart zu erleben. Wenn Sie auf unvoreingenommene Weise bei Ihren Empfindungen präsent sind, haben Sie wesentlich mehr Kontrolle darüber, wie diese sich auf Sie auswirken – und vor allem darüber, wohin sie Sie führen.

      Der Schlüssel liegt darin, mit Ihrem Gewahrsein bei Ihren Empfindungen zu sein und sie zu spüren, anstatt über sie nachzudenken. Oder anders gesagt: Überlassen Sie Ihre Empfindungen nicht Ihrem Ego, sondern lernen Sie stattdessen, ihnen mit Gewahrsein zu begegnen. Das eröffnet die Möglichkeit, Ihre Symptome zu transformieren, sodass sie sich in neue Bilder, Erkenntnisse oder Gefühle verwandeln können und Sie nicht mehr so stark entmutigen oder einschränken. Forschungen haben ergeben, dass Menschen, die einfach nur ihre vorhandenen Empfindungen beobachten, anstatt ihnen das Etikett eines Krankheitssymptoms aufzudrücken, eher glauben, ihr Leben im Griff zu haben, und dass sich dies positiv auf ihre Lebensdauer auswirkt.4

      Als ich vor Jahren einmal an Felsen kletterte, machte ich meine erste persönliche Erfahrung mit dem Umwandeln von Empfindungen. Mir fiel auf, dass ich mich bei dem Gedanken, ich würde aufgrund der empfundenen körperlichen Erschöpfung gleich herunterfallen, sozusagen automatisch nicht länger halten konnte. So beschloss ich irgendwann, diese Empfindung einfach nur zu beobachten und sie von der Annahme, dass ich gleich fallen würde, abzutrennen. Dabei stellte ich fest, dass ich mich – auch nachdem mein Verstand mir gesagt hatte, ich könne nicht mehr – manchmal noch minutenlang am Fels festklammern und sogar weiter hinaufklettern konnte.

      Ein noch weiter führender Schritt gelang mir bei meinen Meditationsübungen; dabei kam es immer wieder vor, dass ich schläfrig wurde und gelegentlich sogar einmal kurz wegnickte. Eines Tages fragte ich mich, worin diese Erfahrung des „Schläfrigwerdens“ eigentlich genau bestand. Ich beobachtete sorgfältig, wie meine Augenlider schwer wurden und mein Blick verschwamm; ich bemerkte, wie meine Aufmerksamkeit vom Wahrnehmen meines Atems und anderer innerer Empfindungen abgezogen und meine äußere Wahrnehmung undeutlich und nebelhaft wurde. Interessanterweise stellte ich fest, dass ich durch das genaue Beobachten dieser Wahrnehmungsveränderungen und das Verweilen bei meinen tatsächlichen Empfindungen schon bald wieder wach und präsent wurde. Der erste und entscheidende Schritt bestand wohl darin, dass ich mich von der verstandesmäßigen Interpretation „Ich werde müde“ oder allein schon von dem Etikett „müde“ löste, mich sozusagen abkoppelte.

      Daraufhin begann ich es mir zur Gewohnheit zu machen, mich von den Namen (oder den Geschichten), die mein Ego meinen Gefühlen oder Empfindungen gab, abzukoppeln und stattdessen das tatsächliche Gefühl wahrzunehmen. Wenn mir bewusst wurde, dass ich mir gerade selbst sagte, ich sei müde – vielleicht während meiner Mittagspause oder nach einem langen Arbeitstag –, entfernte ich sozusagen das verstandesmäßige Etikett meines Zustands und nahm das tatsächliche Gefühl bewusst wahr. Ich entdeckte, dass dieses Gefühl sehr subtil ist, beinahe so etwas wie ein Reigen verschiedener Gefühlszustände, die mit Worten wie Trockenheit, Zittern und Schwere nur unzureichend erfasst werden können. Ich stellte auch fest, dass das Identifizieren mit dem Gedanken „Ich bin müde“ – oder, wenn die Symptome heftiger waren: „Ich bin erschöpft“ – verschiedene Dinge auslöste: Zum einen wurden so die Empfindungen interpretiert und definiert, noch bevor ich ihrer gewahr geworden war, und zum anderen wurden sie zu einer Geschichte über „mich“, statt dass sie etwas blieben, was ich einfach nur wahrnahm.

      Mir wurde bewusst, dass ich in einer alten Gewohnheit des Ego feststeckte: der Gewohnheit, den Dingen Namen zu geben und sich mit diesen Namen zu identifizieren. Außerdem bemerkte ich, dass mein Ego automatisch und nahezu sofort eine zweite Ebene an Gedanken erzeugte, wie beispielsweise das Urteil, ich arbeitete zu viel oder müsse meine Energie besser einteilen. Gleich darauf begann ich mir dann Sorgen zu machen, etwa, ob ich wohl fit genug sei, um das Programm des nächsten Tages durchzustehen, oder ob ich wohl krank werden würde.

      Ich brachte mir also bei, aufmerksam wahrnehmend in meinem Körper präsent zu sein und die Nuancen der einzelnen körperlichen Empfindungen und Gefühle zu erleben, die sich zeigten, wenn ich Gedanken hatte wie „Ich bin müde“ oder „Ich bin in Eile“ oder auch „Mir reicht es jetzt.“ Ich entdeckte schnell, dass das Präsentsein bei diesen Empfindungen und Gefühlen sowie das Entfernen jeglicher Etiketten mich in einen leicht veränderten oder auch völlig neuen Zustand brachte. Häufig fühlte ich mich bereits besser und erholter, wenn ich es geschafft hatte, meine wirklichen Gefühle zu identifizieren – also das, was ich empfand, unabhängig von mentalen Prozessen des Benennens, Erklärens und Projizierens in die Zukunft. Selbst wenn ich tatsächlich müde war, handelte es sich nun eher um ein Gefühl des Abgespanntseins, das in seiner Natürlichkeit sogar recht angenehm war.

      Ich erkannte, dass die Art, wie ich meinen Zustand benannte, zusammen mit dem Kontext anderer,

Скачать книгу