Die Kraft der Präsenz. Richard Moss
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Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie mitten in der Nacht aufgewacht sind und sich Sorgen über etwas gemacht haben? Vielleicht über ein Problem bei der Arbeit oder über einen dummen Streit. Wahrscheinlich ist Ihr Verstand wie wild hin und her gesprungen, da jeder angstvolle Gedanke Sie an etwas erinnert hat, was wiederum einen neuen Anlass zur Sorge gab. Vielleicht haben Sie plötzlich über eine unangenehme Situation mit einem Verwandten nachgedacht oder Sie haben sich daran erinnert, wie abweisend ein Kollege bei der Arbeit zu Ihnen war, und nun fühlen Sie sich gekränkt und verärgert. Sicher haben Sie auch Gespräche in Ihrem Kopf immer wieder durchgespielt und es bedauert, bestimmte Dinge gesagt oder nicht gesagt zu haben, oder Sie haben sich innerlich Sätze zurechtgelegt, die Sie sagen wollen, wenn Sie das nächste Mal in eine solche Situation kommen … Fest steht in jedem Fall, dass die gedankliche Beschäftigung mit dem Thema Sie zusätzlich aufgewühlt hat.
Vielleicht sind Sie auch aufgewacht und haben sich Sorgen über Geld gemacht, über die Rechnungen, die sich auf Ihrem Schreibtisch türmen. Wie wollen Sie das nur packen? Womöglich führte das auch zu Gedanken über andere Leute, die mehr Geld haben als Sie oder die sich um Geld keine Gedanken machen müssen. Hat das Gefühl des Neids bewirkt, dass Sie sich noch hilfloser oder wütender oder noch stärker als Opfer gefühlt haben?
Da lagen Sie also und wälzten sich ruhelos im Bett herum, erschöpft von Ihren eigenen Gedanken und Emotionen. Außerdem war Ihnen bewusst, dass Sie am nächsten Tag so einiges zu erledigen hatten – und schon gesellte sich die Angst dazu, nicht mehr einschlafen zu können. Wie sollten Sie nur den nächsten Tag überstehen – ohne ausreichenden Schlaf? Und so entstand ein neuer Teufelskreis an Gedanken, der Sie in seine scheinbare Realität hineinzog …
Wenn Ihnen das, was ich hier beschrieben habe, bekannt vorkommt, sollten Sie sich deswegen nicht schlecht fühlen. Es ist einfach eine typische Reaktion des Ego, die einsetzt, wann immer Sie sich in irgendeiner Weise bedroht oder unsicher fühlen, also beispielsweise speziell dann, wenn eine schwere Krankheit droht oder Sie sich inmitten in einer größeren Veränderung befinden. Das Ego weiß einfach nicht, wie es mit schwierigen Gefühlen (wie Verwundbarkeit oder Machtlosigkeit) umgehen soll. Wenn das Ego Regie führt, können Sie eine gewisse Dynamik beobachten: Ein Gedanke erzeugt eine Emotion, die zu einem weiteren Gedanken führt, der die nächste Emotion hervorruft … So drehen wir uns im Kreis, wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Dabei werden wir immer nervöser und unglücklicher, auch wenn es uns ansonsten gerade gut geht und wir warm und sicher im Bett liegen. Das Interessante dabei ist, dass Sie das ursprüngliche Gefühl, dass diese ganze Gedankenlawine ausgelöst hat, nie wirklich erkennen; Sie bekommen es nicht zu Gesicht und können ihm nicht mit vollem Gewahrsein begegnen.
Damit Sie dermaßen in Fahrt kommen, muss das Ego Sie gegenüber dem gegenwärtigen Moment blind machen, denn wenn Sie im Hier und Jetzt völlig präsent sind, gibt es keinen Raum für das Ego. Aus Selbsterhaltungstrieb zerrt das Ego Sie daher aus dem Jetzt und damit aus der Realität heraus – mit jedem Gedanken ein Stückchen weiter. Wenn Sie beginnen zu beobachten, was Ihr Ego da anstellt (und dazu kommen wir in Kürze), werden Sie feststellen, dass es Sie aus dem Jetzt nur an vier andere Orte bringen kann: in die Vergangenheit, in die Zukunft, in Geschichten über Sie selbst oder in Geschichten über andere.
Die gute Nachricht ist, dass Sie dieses „Karussell“ verlassen können, sobald Sie bemerken, dass Sie nicht in der Gegenwart sind. Fragen Sie sich: „Was passiert jetzt in diesem Moment?“ Schauen Sie sich um, beobachten und lauschen Sie. Worin bestehen die Unterschiede zwischen Ihrer tatsächlichen Situation und Umgebung – Geräusche, Licht, Farben und so weiter – und der mentalen und emotionalen Welt, die von Ihren Gedanken erzeugt wird? Nehmen Sie Ihren Atem und Ihren Körper bewusst wahr. Entspannen Sie sich. Sie sind vielleicht krank, aber Sie werden nicht angegriffen – außer von Ihren eigenen Gedanken.
Erkennen Sie, was Ihr Ego getan hat? Es hat Sie aus der Gegenwart herausgezerrt, hinein in die Welt der Erinnerungen und Erwartungen. Gedanken an die Vergangenheit haben zu Emotionen wie Schuld, Vorwürfen, Bedauern oder Nostalgie geführt, Gedanken an eine imaginäre Zukunft zu Angst und Furcht. Sie wurden von lähmenden, vom Verstand erzeugten Emotionen überwältigt. Eine solch intensive Selbstsabotage kennzeichnet das Ego in seinen schlimmsten Ausprägungen. Wenn Sie jedoch gewahr werden, dass Sie gerade nicht in der Gegenwart sind, sondern sich vielmehr in der Zukunft oder in der Vergangenheit bewegen, dann können Sie aus diesem Traum und Drama erwachen.
Durch die Rückkehr in die Gegenwart legt sich der innere Aufruhr, denn Sie dämmen dadurch die Flut der Gedanken ein, die ihn erzeugt und aufrechterhalten haben. Sie zerstören die Trugbilder. Wenn Sie gelernt haben, sich mithilfe Ihres Gewahrseins in den gegenwärtigen Moment zurückzuholen, sind Sie stärker im Körper präsent, wacher für Ihr wahres Selbst und in der Lage, die Anforderungen Ihres Lebens mit Klarheit anzugehen.
Jedes Mal, wenn Sie das Jetzt verlassen, identifizieren Sie sich unweigerlich mit einer Geschichte, die Sie sich über Sie selbst, Ihre Gesundheit oder Ihr Leben erzählen. Das ist so, als wären Sie – wie die Titelfigur aus Alice im Wunderland – durch ein Kaninchenloch in eine imaginäre Welt gefallen. Aber im Gegensatz zu Alice, der bewusst war, dass sie sich in einer Fantasiewelt befand, sind die meisten von uns völlig davon überzeugt, dass diese Welt echt sei.
Es ist von entscheidender Bedeutung, sich diesen letzten Punkt klarzumachen, denn die blinde Identifikation mit Ihren Geschichten wird sich endlos fortsetzen, wenn Sie nicht das Muster erkennen und es dem Licht des Gewahrseins des gegenwärtigen Moments aussetzen. Sie können nur dann Ihr authentisches Selbst sein, wenn Sie aufwachen und Ihren rechtmäßigen Platz als das bewusste Wesen einnehmen, das die ganze Show beobachtet, aber nicht mehr in ihrem Bann gefangen ist.
Der Prozess des Wachwerdens für ein höheres Maß an Gewahrsein und Präsenz wird manchmal als Tod des Ego bezeichnet. Aber das Ego stirbt nicht, wenn Sie einen höheren Grad an Präsenz gewinnen, und sollte dies auch gar nicht tun. Wichtig ist allein, dass es Ihren Verstand nicht mehr regiert und Ihre Erfahrung nicht mehr bestimmt. Stattdessen dient es dem Gewahrsein, indem es Ihren einzigartigen Standpunkt repräsentiert – allerdings nicht länger in einer Form, die Ihre Identität definiert, Sie von anderen abtrennt und Sie zu etwas Besonderem macht. Wenn das Ego sich zurückzieht und dem Gewahrsein den Vorrang gibt, verliert Ihre Identität als Einzelperson an Dominanz und Sie können die ganze Fülle des Seins kosten.
KAPITEL 3
Die eigene Wirklichkeit erschaffen
Eine in unserer Zeit populäre Aussage lautet: „Du erschaffst dir deine eigene Realität.“ Leider wird dies oft missverstanden und so gedeutet, dass etwa ein Kranker seine Krankheit selbst verschuldet habe. Natürlich gibt es durchaus Fälle, in denen man eine gewisse Verantwortung für seine Krankheit trägt, etwa wenn man in der Vergangenheit nicht besonders gesund gelebt, wenn man geraucht oder ein Übermaß an Alkohol zu sich genommen hat. Gleiches gilt für die Einnahme von Drogen oder für Medikamentenmissbrauch. Von diesen offensichtlichen Beispielen einmal abgesehen können Sie jedoch in den meisten Fällen nicht wissen, warum Sie erkranken. Deshalb sollten Sie das Ganze nicht noch zusätzlich verschlimmern, indem Sie sich schuldig fühlen.
Die eigentliche Wahrheit, die in dem oben zitierten Satz steckt, ist die, dass Sie tatsächlich Ihre eigene Wirklichkeit erschaffen, allerdings nur gerade jetzt, in diesem Moment. Und zwar tun Sie dies mit den Geschichten, die Sie sich erzählen und mit denen Sie sich identifizieren. Sie erschaffen nicht die Szenerie, in der Sie sich befinden, sondern Ihre Reaktion darauf.
Wie das Wetter beispielsweise sich präsentiert, liegt nicht