Die Kraft der Präsenz. Richard Moss
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Wenn Sie sich selbst sagen: „Ich habe diese Krankheit verursacht“, dann erzeugt dies sofort ein Gefühl von Scham und Schuld. Besser geht es Ihnen damit auf keinen Fall. Selbst wenn Sie zuvor nicht immer gesund gelebt haben, hilft es im gegenwärtigen Moment nicht, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Der Schlüssel dazu, Ihr Potenzial des Heilwerdens zu stärken, liegt in der Entscheidung, völlig präsent zu sein. Oder anders gesagt: Zerbrechen Sie sich nicht länger den Kopf darüber, was Ihre Krankheit verursacht hat, und lassen Sie sich lieber ganz auf das ein, was Ihre tatsächliche Erfahrung in jedem Moment ist.
Die Auffassung, dass Sie Ihre Krankheit selbst verursacht hätten, hat aber noch eine weitere Konsequenz: Sie werden dann vermutlich glauben, Sie könnten erst dann Heilung erreichen, wenn Sie die Ursache der Krankheit herausgefunden hätten. So stehen Sie erst recht unter Druck, denn zu Ihrem Schuldgefühl gesellen sich noch Angst und Sorge hinzu. Die Wahrheit ist also, dass Sie tatsächlich Ihre eigene Realität erzeugen, und zwar allein durch Ihr Denken. Wenn Sie glauben, dass Sie Verursacher(in) Ihrer Krankheit seien (was Sie im Übrigen wieder zu etwas Besonderem macht), führt dies nur zu unnötigem Leiden.
Wie ich bereits ausgeführt habe, geht es dem Ego um Identität. Außerdem hält es sich an die Chronologie der Ereignisse und zieht aus den Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit einstellen, seine Schlüsse: „Ich war gesund und jetzt bin ich krank, … also muss etwas passiert sein, was dies verursacht hat.“ Sind Sie hingegen einfach präsent, so haben Sie die Zeit losgelassen und damit auch das Ego. Die Dinge sind einfach so, wie sie sind, und Sie identifizieren sich nicht länger mit Begriffen wie krank oder gesund.
An Ursache und Wirkung zu glauben, also an das Prinzip der Kausalität, das ist eine Art, wie Sie Geschehnisse und Erfahrungen interpretieren können: Wenn A stattfindet, dann resultiert daraus B, also verursacht A das B … Die moderne Medizin und die Wissenschaft ganz allgemein basieren auf diesem Prinzip der Kausalität: Wenn man die Kette der Ereignisse, die zu einer Krankheit führen, erkennen und dann ändern kann, ist man vielleicht auch in der Lage, sie aufzuhalten. Dieser Ansatz hat es möglich gemacht, viele Krankheiten in den Griff zu bekommen. Die moderne Medizin rettet jeden Tag unzählige Leben, die noch vor wenigen Jahrzehnten verloren gewesen wären.
Doch auch wenn die äußere, objektive Welt dem Gesetz von Ursache und Wirkung zu folgen scheint, verliert die Kausalität beim Wechsel in die Gegenwart – in das Sein – an Bedeutung und wird gänzlich unbestimmbar. Es ist so, als würden Sie sich immer mehr dem Zentrum eines sich drehenden Rades nähern: Am Ende dieser Annäherung liegt ein Punkt, der völlig bewegungslos ist.
Wenn Sie im Jetzt sind, hört Ihr Verstand auf, über Sie und alles andere nachzudenken, und Sie sind einfach gewahr. Die Zeit hält in gewisser Weise an oder „verlangsamt“ sich so weit, dass Ihr Selbstempfinden nicht mehr das von jemandem ist, der sich auf dem Weg irgendwohin befindet. Sie sind einfach, wie Sie sind. Ihre Situation – oder genauer gesagt: Ihr gegenwärtiger Zustand – ist nichts, was von etwas Vorausgegangenem verursacht wurde. Sie vergleichen ihn weder mit der Vergangenheit, noch treffen Sie irgendwelche Vorhersagen für die Zukunft. Sie erklären Ihre Erfahrung nicht länger und rechtfertigen, rationalisieren oder interpretieren sie auch nicht. Daher weisen Sie dem, was Sie erleben, auch keine Ursache zu – Sie sind einfach. Und in diesem Sein sind Sie stets und immer schon heil und ganz. Wichtig ist nicht, wie Sie an den Punkt gekommen sind, an dem Sie sich jetzt befinden, sondern wie präsent Sie in der jeweiligen Erfahrung sind.
Beispiel: Brustkrebs
Ich kenne eine Frau, die mittlerweile 82 Jahre alt und mir eine ständige Quelle der Inspiration ist. Ihr Körper leidet seit sieben Jahren an Metastasen bildendem Brustkrebs. Dennoch begegnet sie mir immer mit einem Augenzwinkern und ist sich selbst gegenüber vollkommen ehrlich. Sie ist sozusagen ein wandelndes Lächeln und strahlt eine unglaubliche Liebe aus.
Als sie erfuhr, dass sie Krebs hatte, beschloss sie von Anfang an, in ihrem fortgeschrittenen Alter keine Chemotherapie mehr zu machen und der Krankheit stattdessen ihren Lauf zu lassen. Sie lebt ein nahezu normales Leben und lässt an kaum einem Tag ihre leichten Tai-Chi-Übungen aus. Wenn sie es allerdings nur ein wenig übertreibt, „aktiviert“ sich ihr Krebs und es kann plötzlich zu einer lebensbedrohlichen Krise kommen. Mehrmals schon waren ihr Bauchraum und ihre Lunge so voller Wasser, dass sie auf der Schwelle zum Tod stand. Doch jedes Mal erholte sie sich auf geheimnisvolle Weise wieder.
Andererseits ist das Ganze vielleicht doch nicht so geheimnisvoll, wie es zunächst scheinen mag: Sie kämpft nicht gegen den Tod an, sondern gibt sich dem hin, was ist. Und das bedeutet, im Bett zu bleiben und ein bewusster Teil des Sterbeprozesses zu sein, wenn er denn ansteht. Sie hat sich selbst gefragt, welche Art von Tod sie sich wünscht, und gründlich darüber nachgedacht. Ihre Entscheidung lautet: „Ich will bis zum Ende alles liebend annehmen.“ Kürzlich sagte sie zu mir: „Das Leben hat vielleicht seine eigenen Pläne – wer weiß schon, wie ich wirklich gehen werde. Aber ich habe immerhin das Recht, meine Meinung zu äußern.“ Der Krebs scheint bei dieser Frau von ihrem Zustand tiefer Annahme und dem achtungsvollen Hören auf sich selbst in gewisser Weise in Schach gehalten zu werden. Für sie ist das Ja zum Leben gleichbedeutend mit dem Ja zum Tod.
Wirklichkeit bildet sich ständig neu
Wir leben in einer Welt, die von Kausalität regiert zu werden scheint; aber auf einer fundamentalen Ebene (derjenigen der bewussten Beziehung zu unserer Erfahrung in jedem Moment) greift das „Gesetz“ von Ursache und Wirkung offenbar nicht. Stattdessen gibt es dort eine in Entwicklung begriffene Realität, eine ständige Dynamik von Sein und Entdeckung. Nehmen wir beispielsweise Krebs: Krebs ist nicht nur bei jedem Menschen eine andere Krankheit, es ist auch bei jedem Menschen in jedem Moment eine andere Krankheit, denn wie bereits erwähnt organisiert sich der Körper – in Abhängigkeit davon, wie präsent eine Person ist – in einem geringeren oder stärkeren Grad von Ganzheit neu.
Wenn Sie das verstehen, können Sie sich vom Konstrukt der Kausalität verabschieden: dass irgendetwas Sie krank gemacht hat und Sie auf eine bestimmte Weise leben und spezielle Medikamente nehmen müssen, um wieder gesund zu werden. Natürlich ist dies manchmal zum Teil der Fall, aber wenn Sie nichts anderes tun, als den Anweisungen Ihres Arztes zu folgen, dann übergehen Sie Ihren inneren Arzt, der wesentlich klüger ist und eventuell sogar wirkungsvoller heilen kann.
Beispiel: Nackenschmerzen
Neulich besuchte mich eine gute Freundin, die unter chronischen Nackenschmerzen leidet. Diese hatten sich mittlerweile so sehr verschlimmert, dass es ihr weder möglich war, am Computer zu sitzen und zu arbeiten, noch konnte sie lesen oder fernsehen. Selbst im Bett zu liegen brachte keine Erleichterung. Im Laufe der Jahre war sie bei vielen verschiedenen Ärzten gewesen, die zahllose Tests und Untersuchungen durchgeführt hatten. Sie wusste, dass sie eine degenerierte Bandscheibe hatte. Einige Ärzte schlugen ihr vor, zu operieren; andere bezweifelten, dass dies helfen würde. Sie durchforstete das gesamte Spektrum der Schul- und Alternativmedizin. Manchmal war sie ein paar Stunden schmerzfrei, manchmal sogar ein paar Tage, aber die Schmerzen kehrten immer wieder zurück und wurden nach und nach schlimmer.
Als wir an diesem Tag beisammensaßen, schlug ich ihr vor, dass sie – anstatt die nächste Behandlungsmöglichkeit zu erörtern oder mir die medizinischen Gründe für ihre Schmerzen darzulegen –, einfach versuchen sollte, sie als Ausgangspunkt für eine Reise in die Gegenwart zu nehmen. Ich bot ihr an, sie intuitiv auf dem Weg in den Schmerz zu begleiten.
Als sie ihre Aufmerksamkeit auf den Schmerz lenkte, bat ich sie, die gesamte Konstellation dessen, was sie in ihrem Kopf, im Nacken