2030. Thomas Flichy De La Neuville
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Im Übrigen beschränken sich die Indikatoren, die eine Antizipation von Zukunft ermöglichen, nicht nur auf die schwachen Signale der unmittelbaren Geschichte; unter Umständen liegen sie mehrere Jahrhunderte zurück, zumal Kulturen einem langfristigen Wandel unterliegen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die meisten Zukunftsanalysen, vor allem wenn sie von der öffentlichen Hand in Auftrag gegeben werden, selten dem Zweck dienen, die unschuldige Neugier der breiten Öffentlichkeit zu befriedigen. Auftragsstudien legitimieren gewisse politische Entscheidungen im Voraus und schläfern Ängste ein, die störend sein könnten. Echte Antizipationsarbeit verlangt hingegen Klarsicht und Mut, zwei Eigenschaften, an denen es im Westen schmerzlich fehlt, wie der russische Oppositionelle Alexander Solschenizyn meinte. Eine mögliche Erklärung dafür ist: Weil wir vorgaben, uns von allem geschichtlichen Erbe loszusagen und uns als spontane Kultur zu begreifen, haben wir uns der Fähigkeit zur Antizipation beraubt. Tatsache ist, dass alle im Niedergang befindlichen Kulturen sich durch ihr Unvermögen auszeichnen, die drohenden Gefahren vorherzusehen. So kam es, dass der persische Eroberer Schapur I. im Jahr 252 nach Christus ungehindert in die Stadt Antiochia dringen konnte und die Einwohner sorglos versammelt im Theater vorfand. Wie der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus berichtet, rief der Schauspieler auf der Bühne auf einmal mitten in die heitere Menge hinein: „Träume ich, oder sind da die Perser?“ Darauf drehten sich die Bürger von Antiochia verblüfft um und erblickten die sassanidischen Bogenschützen auf den obersten Rängen, die einen Pfeilregen auf sie niedergehen ließen, ehe sie die Stadt in Brand setzten.4 Manchmal ist die Strafe für geistige Blindheit sehr schmerzlich.
Weil Reiche in ihrer Endphase außerstande sind, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und sie sich ihren Untergang nur im Traum vorstellen können, häufen sich die strategischen Fehler. Noch schwieriger wird es bei Zukunftsprojektionen, und sei es nur für die kommenden zwei Jahrzehnte. Oder gibt es etwa Zukunftsstudien, die Mitte der 1970er Jahre den Mauerfall in Berlin auch nur ansatzweise in Betracht gezogen haben?
Die Autoren dieses Bandes versuchen es dennoch: die Zukunft zu antizipieren. Als Vorlage und gleichzeitig gedankliche Gegenschablone fungieren die Zukunftsstudien amerikanischer Geheimdienste. Diese prominenten Quellen nehmen die Autoren auf, um ein eigenes Bild der naheliegenden Zukunft im Jahr 2030 zu zeichnen. Das vorliegende Buch wird daher kein Abklatsch des bekannten CIA-Berichts5 Global Trends 2030 sein, dafür haben die amerikanischen Studien bereits aus vielerlei Gründen zu viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Vielmehr geht es darum, eigene, mutigere und komplexere Zukunftsmuster zu beschreiben, gleichsam den Deutungsanspruch amerikanischer Außenpolitik, wie überhaupt das Selbstverständnis der heute Mächtigen, zu hinterfragen.
Haben die Amerikaner die globalen Entwicklungen für 2015 richtig prognostiziert?
Trotz aller Effizienz des Marketings, das der amerikanische Geheimdienst rund um seine Zukunftsberichte entfaltet, tun sich die Vereinigten Staaten insgesamt schwer, Entwicklungen zu antizipieren. Nehmen wir zum Beispiel den Strategiebericht Global Trends 2015.6 Er wurde im Jahr 2000 ausgearbeitet und antizipiert die Weltlage von heute. Abgesehen von einigen Vorahnungen, die sich als richtig erwiesen haben, müssen wir feststellen, dass der zentrale Teil der Analyse wie die Projektion eines Wunschbildes daherkommt. Es ist das Wunschbild einer im Zuge der Globalisierung befriedeten Welt, die nicht in der Lage ist, sich angesichts der Supermacht USA neu zu ordnen.
Im Jahr 2000 gingen die namhaftesten amerikanischen Experten davon aus, dass die Weltwirtschaft um das Jahr 2015 wieder das Wachstumsniveau der 1960er bzw. frühen 1970er Jahre erreichen würde. Nicht nur die Schwellenländer würden von diesem Wachstum profitieren, sondern auch die Industrienationen. Tatsächlich trügen die Verbesserung der makroökonomischen Politiken, die Beibehaltung niedrigster Inflationsraten und vor allem die Schaffung des Euro zum Wirtschaftswachstum und infolgedessen auch zu einer weltweiten politischen Stabilisierung bei. In Europa „wird die rapide Ausweitung des Privatsektors, verbunden mit Deregulierung und Privatisierung, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und einen Wettbewerbsdruck auslösen, der zu einer effizienteren Ressourcennutzung führt“.7 Die digitale Revolution würde es Unternehmen auf der ganzen Welt ermöglichen, die „‚Best Practices‘ der erfolgreichsten Unternehmen zu erlernen“8 (wobei darunter die Erfolgsmethoden des globalisierten Kapitalismus zu verstehen sind). Europa, der befriedete Kontinent mit dem wiedergewonnenen Wohlstand der 1960er Jahre, würde 2015 weltweite Handelsbeziehungen pflegen. Nach Einschätzung des US-Berichts aus dem Jahr 2000 würde dieser Wohlstand mit einem deutlichen Fortschritt von Demokratie und Transparenz weltweit einhergehen. Denn um eine globalisierte Wirtschaft zu managen, müssten die Regierungen fürei-nander transparenter sein. Die auf zwei Milliarden Menschen angewachsene Mittelklasse würde Bestrebungen nach mehr Demokratie erzeugen, woraufhin die Staatengemeinschaft dem Schutz der Bürgerrechte mehr Beachtung schenken und die Demokratisierung in der Welt unterstützen würde … Wie es aussieht, malte der National Intelligence Council im Jahr 2000 ein idyllisches Bild der Zukunft. Tatsache ist jedoch, dass die Entwicklungen in den Bereichen Wirtschaft und Staatsführung gleichermaßen genau in die entgegengesetzte Richtung verlaufen sind: Der Traum von einer befriedeten Welt nach der Öffnung der Grenzen ist geplatzt. Die Demokratie hat überall zu leiden gehabt, auch in den USA, wo die Freiheiten des Einzelnen im Namen der kollektiven Sicherheit beschnitten wurden.9
Genauso wenig stichhaltig waren die Vorhersagen des US-Geheimdienstrats in geopolitischer Hinsicht: 2015 hätte Russland in einer tiefen Rezession stecken und durch die Diskrepanz zwischen seinen politischen Ambitionen und den fehlenden Ressourcen einen Machtverlust erleiden müssen: „Russland wird im Innern schwach bleiben […] und nicht in der Lage sein, eine Koalition als Gegengewicht zur Führungsrolle der Vereinigten Staaten zu bilden“. Eine Vorhersage, die das heutige strukturgebende geopolitische Bündnis zwischen Russland, China und dem Iran – die kontinentale antiamerikanische Allianz schlechthin – Lügen straft. Den Machtverlust Russlands stellte man sich so einschneidend vor, dass das Land nicht einmal mehr in der Lage gewesen wäre, seine konventionellen Streitkräfte zu erhalten, geschweige denn zu entsenden. In Georgien und in der Ukraine ist das Gegenteil bewiesen worden. Den US-Vorhersagen zufolge hätte sich Russland im Jahr 2015 nur noch auf sein alterndes Atomarsenal stützen können, um die Nachbarstaaten zu terrorisieren. Außerdem wäre dann „‚Eurasien‘ nur noch ein geografischer Begriff, der keine verbindende politische, wirtschaftliche oder kulturelle Realität hat“.10 Die Ukraine ihrerseits würde „eher für die Unabhängigkeit optieren als für eine Wiedereingliederung in die russische Einflusssphäre“.11
Das ist selbstredend keine Prognose, sondern reines Wunschdenken! Was übrigens später in den amerikanischen Hilfsaktionen für die demokratische Ukraine greifbar wurde. Für den Nahen Osten wiederum zogen es die Amerikaner vor, „neue gesellschaftliche Dynamiken“ aufkommen zu sehen, die von einer Radikalisierung des Islam (das Wort kommt im Bericht nur fünf Mal vor) sehr weit entfernt sind. Sie verlieren kein Wort über die Wiedererweckung des Islam, obwohl es um die Jahrtausendwende schon deutliche Anzeichen dafür gab. Israel würde im Jahr 2015 in Frieden mit seinen Nachbarn leben, insbesondere mit Palästina, das als souveräner Staat anerkannt worden ist … Nur noch die Atomraketen eines erstarkten Irak würden eine Bedrohung für die USA darstellen. Jetzt, wo diese unheilvolle