Der Gestrandete. Volker Kaminski
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Normalerweise passierten mir solche Zufallsbegegnungen nicht. Es war eher so, dass mir bei kulturellen Veranstaltungen die üblichen Verdächtigen über den Weg liefen. Ich hatte keinen alten Schulfreund in all den Jahren je wieder getroffen. Die meisten waren sowieso in Frankfurt geblieben.
Noch seltener allerdings setzte sich ein alter Klassenkamerad ungebeten in den Keller unseres Hauses und wartete auf mein Kommen.
Wir hatten den Keller nicht umgestaltet, seit Evelines Eltern ausgezogen waren, so dass nach wie vor ein Eichentisch in der Mitte stand, um den ein paar schwere Stühle aufgereiht waren. Hinten gab es eine Eckbank. Es hingen auch einige alte Ölbilder an den Wänden.
Frank saß an der vorderen Stirnseite, mit dem Rücken zum Weinkühler, aus dem er sich bereits bedient hatte. Er drehte sich zu mir um und lächelte, als rechne er mit meinem Wohlwollen.
„Was machst du hier?“, fragte ich.
Vor ihm stand ein Glas Wein, daneben lag der Korkenzieher. Er hatte sich einen Müller-Thurgau geöffnet.
„Hi“, sagte er. „Ich wollte zu dir. Aber jemand hat die Tür abgeschlossen.“
„Das war Johanna. Was glaubst du, sie hat dich für einen Einbrecher gehalten!“
„Das wollte ich nicht“, sagte er mit bekümmerter Miene.
„Ich habe mich übrigens ein wenig bedient, um die Wartezeit zu verkürzen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.“
Ich wartete einen Moment.
„Hör mal, das geht nicht. Du kannst nicht hier herein spazieren und einfach Platz nehmen ...“
„Ich weiß“, unterbrach er mich und stand auf. „Blöd von mir euch einen Schrecken einzujagen. Ich war so fasziniert von diesem schönen alten Haus und eurem herrlichen Garten. Ich war sicher, ihr wärt daheim. Ich habe ein paar Mal laut gerufen, aber keiner hat mir geantwortet, während ich zur Terrasse ging. Dann bin ich auf die Kellertür gestoßen. Die musste ich einfach öffnen und schauen, was es sonst noch Schönes gibt.“
Mir fiel ein, dass Frank schon früher nie um Ausreden verlegen gewesen war. Er konnte einen mit seiner angenehmen Stimme durchaus in Bann ziehen.
„Pass mal auf“, sagte ich und schüttelte den Kopf, „wir haben uns ewig nicht gesehen, treffen uns zufällig irgendwo in der Stadt, und dann kommst du her, ohne vorher anzurufen, und dringst einfach ins Haus ein. Ich fasse es nicht!“
„Sorry, Sascha“, murmelte er.
Ich ging an den Tisch, nahm den Korkenzieher, drehte den Korken heraus und steckte ihn auf die Weinflasche. Dann stellte ich die Flasche zurück in den Weinkühler.
Verlegen lächelnd stand er vor mir. Er trug ein dunkles Sakko, war schlank und sah immer noch recht jung aus. Sein locker gescheiteltes dichtes Haar war schwarz, ohne eine Spur von grau. Er hatte früher schon gut ausgesehen und hatte sich seine Ausstrahlung bis heute bewahrt. Allerdings fiel mir auf, dass er erschöpft wirkte. Seine Haut war blass. Alles in allem kam er mir ausgelaugt vor.
„Also wirklich, was hast du dir dabei gedacht?“
„Tut mir leid“, wiederholte er, seine Stimme verfiel in einen leiernden Singsang, „tut mir echt leid.“
Ich machte kehrt und ging nach oben; er folgte mir die Treppe hinauf, während er sich zum dritten Mal entschuldigte.
Irgendwie fühlte ich mich für sein Hiersein verantwortlich. Oben bog ich in die Diele ab, öffnete die Zwischentür und wartete, dass er kam. Aber er hatte Eveline und Johanna bemerkt, die im Wohnzimmer am Tisch saßen, und ich konnte nicht verhindern, dass er ins Zimmer ging, sich fast auf Eveline stürzte und ihr seine Hand hinstreckte.
„Frank Kalina“, sagte er, „Sie müssen entschuldigen, Frau Fehrmann, dass ich Sie – und Ihre Tochter – erschreckt habe.“ Dabei beugte er sich auch zu Johanna und wollte ihr ebenfalls die Hand geben, doch Johanna blieb mit verschränkten Armen sitzen.
„Moment mal, warum Kalina?“, sagte ich hinter ihm. „Du heißt doch Steiner.“
„Ist der Name meiner Ex-Frau“, sagte er halblaut in meine Richtung. „Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie in Aufregung versetzt habe“, wandte er sich wieder an Eveline. „Ich wollte eigentlich mit Ihnen sprechen. Sascha hat mir gesagt, Sie leiten eine Theatergruppe?“
Eveline musterte ihn fragend.
Er erwiderte ihren Blick, offensichtlich beeindruckt von ihrem guten Aussehen, den kurzen blonden Haaren, ihrer schlanken Gestalt.
„Sie interessieren sich fürs Schauspielen?“
„Ich bin Schauspieler“, sagte er freudestrahlend, „aber leider habe ich lange, lange pausieren müssen ... Tja, und jetzt bin ich seit einem Monat in Karlsruhe und erfahre durch Sascha von Ihrer Theatergruppe. Die würde ich mir liebend gerne einmal anschauen.“
„Aha“, sagte Eveline und ließ einen Moment verstreichen. „Wenn Sie wollen, können Sie ja mal vorbeikommen.“
„Mama!“, protestierte Johanna.
Bevor ich etwas dazu sagen konnte, drehte er sich zu mir um und streckte mir die Hand hin.
„Nichts für ungut, Sascha!“
Er schien es auf einmal eilig zu haben und drängte mich aus dem Wohnzimmer. In der Diele unter dem Kronleuchter richtete er seinen durchdringenden Blick auf mich. „Sei mir nicht böse, dass ich heute diese Unordnung angerichtet habe. Das wollte ich wirklich nicht.“
„Schon gut.“
Ich öffnete die Wohnungstür und er ging an mir vorbei ins Freie.
„Ich melde mich wieder, Sascha.“
Ich sagte nichts dazu und schloss die Tür.
2
Natürlich nahm ich an, dass die Angelegenheit damit erledigt war. Ich hatte nicht die Absicht, Frank Kalina noch einmal wiederzusehen. Zwei Wochen lang sprachen wir kein Wort über ihn. Eines Freitagabends, als wir zu zweit beim Essen saßen, überraschte mich Eveline mit der Mitteilung, sie habe Frank probeweise in ihre Gruppe aufgenommen.
Ich war sprachlos. „Was? Er ist wirklich zu euch gekommen? Wie hat er euch denn gefunden? Woher hatte er die Adresse eures Proberaums?“
„Er hat hier angerufen und eine Nachricht auf Band hinterlassen. Wir finden ihn übrigens alle sehr überzeugend und begabt. Ein Glücksfall für unsere Gruppe.“
„Das ist doch ziemlich dreist von ihm, findest du nicht?“
„Warum denn?“
„Nach dem gespenstischen Auftritt, den er bei uns hingelegt hat!“
Sie antwortete nicht und widmete sich in aller Ruhe ihrem Salatteller.
Eveline