Der Gestrandete. Volker Kaminski

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Der Gestrandete - Volker Kaminski Lindemanns

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Mich interessierte genau diese diffuse Angst, diese dunklen Vorahnungen einer globalen Katastrophe. ReFuge Nr. 50 sollte sich mit den zeitgenössischen Schreckensszenarien auf produktive Weise auseinandersetzen. Natürlich nicht in billig voyeuristischer Weise. Statt Untergangsstimmung zu erzeugen, sollten die Geschichten deutlich machen, wie sich das Seelenleben heutiger Menschen veränderte, wenn sie in zunehmender Dichte mit großen Katastrophen konfrontiert wurden.

      Ich stellte mir vor, dass es keinen Schutz gab vor dem elementaren Schrecken, er verfolgte die Menschen überall hin, kroch ins Haus, ins Zimmer, ins Bett hinein und besuchte sie in ihren Träumen. Statt eines Gefühls von Geborgenheit beherrschte sie die Ahnung totaler Hilflosigkeit. Die Angst wurde selten fassbar, rumorte im Stillen, doch manchmal kam sie über sie, vor allem dann, wenn sich erneut irgendwo auf der Welt ein unfassbares Desaster ereignete.

      Auch der Anblick Kalinas weckte bei mir dunkle Ahnungen, er vermittelte trotz seiner scheinbaren Souveränität den Eindruck von ständiger Getriebenheit. Es kam immer häufiger vor, dass ich beim Herausarbeiten von Charakteren, beim Verfassen von Alltagsglossen an ihn dachte. Seine Physiognomie war mir hilfreich, wenn ich Feuilletons vom heutigen Leben schrieb.

      Ich verabredete mich nach einer Woche wieder mit ihm in jenem Bistro am Gutenbergplatz. Ich wollte ihm die 50 Euro zurückgeben. Doch an diesem Tag wirkte er so niedergeschlagen, dass ich mein Vorhaben aufschob.

      Etwas an ihm stimmte mich misstrauisch, ich konnte nicht genau sagen, was es war, vielleicht jener „Minimalismus“, den Eveline an ihm beobachtet hatte und der mir irgendwie unehrlich erschien. Er schaute ins Weite, während er in ruhigem Ton erzählte, dann fixierte er mich wieder mit schwermütigen Augen, so dass seine Ausführungen nie monoton wirkten.

      Sein Lebensrückblick ließ unterschiedliche Deutungen zu: Er hatte schlichtweg versagt; er hatte Pech gehabt; er war unfähig gewesen Entschlüsse zu fassen; er hatte die falschen Leute kennengelernt. Alles traf in gewisser Hinsicht auf Frank Kalina zu, aber es blieb immer ein unerklärter Rest. Er sagte, er habe viele Jahre lang großes Heimweh nach Deutschland gehabt, sich aber den Rückkehrwunsch nicht erfüllen können.

      „Warum nicht?“, fragte ich.

      „Es war nicht möglich, ich konnte nicht, ich fühlte mich gezwungen in Teneriffa zu bleiben, wo ich mich als Animateur verdingte und als Reiseverkäufer arbeitete. Wohin hätte ich ziehen sollen, in welcher Stadt wohnen? Es waren lauter verbotene Städte für mich: Frankfurt, Freiburg, Berlin. Ich konnte mir nicht vorstellen an einem dieser Orte neu anzufangen.“

      „Dann war dein Heimweh wohl nicht stark genug, andernfalls wärst du doch einfach gekommen. Wer oder was hätte dich daran hindern sollen?“

      Er schwieg mit einem Ausdruck unterdrückter Verzweiflung im Gesicht.

      Es war Nachmittag, wir hatten wieder den Loungebereich besetzt, saßen in Sesseln am niedrigen Tisch; leise säuselte Radiomusik im Hintergrund. Frank begann zu schwitzen, seine Wangen glänzten; er sprach wie unter Anstrengung und schien sich nicht entspannen zu können.

      „So einfach war es nicht. Ich fühlte mich sicher, solange ich in der Ferienanlage arbeitete. In Deutschland hätte ich mir mein Scheitern sofort eingestehen müssen. Ich spürte zwar, dass ein riesiges Loch in mir war, aber wenigstens hatte ich dort meine Ruhe. Ich hatte Kollegen, denen es ähnlich ging wie mir, die aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht waren. Manche hatten Schulden in Deutschland, andere waren aus ihrer Ehe geflohen, hatten Kinder, um die sie sich nicht kümmerten.“

      „Aber du warst doch nicht auf der Flucht“, sagte ich, „ich verstehe das wirklich nicht.“

      Er seufzte schwer. „Es war dieses Milieu, in das ich hineingeraten war. Statt etwas anzupacken, die Schauspielerei endlich professionell zu betreiben, saß ich lieber auf der Pool-Terrasse in Spanien, unterhielt mich mit einer Kollegin und wartete auf die Touristen, um sie zu bespaßen.“

      Er griff in seine Sakkotasche, wie um etwas herauszuholen, hielt aber in der Bewegung inne und nahm die Hand wieder heraus.

      „Ich fühlte mich irgendwie abgestempelt. Ja, genau, als wäre ich nicht mehr Teil dieser Welt.“

      „Schon merkwürdig“, sagte ich, „du hättest dich doch eigentlich um deine Schauspielerei kümmern sollen. Hast du dort nichts dafür unternommen?“

      „Alles, was es in Teneriffa in dieser Hinsicht gab, waren die Hotelbühnen fürs Unterhaltungsprogramm. Dort waren Zauberer oder Sänger mehr gefragt als Schauspieler. Ich traf in all den Jahren eigentlich nur einen einzigen Menschen, der sich überhaupt für Kunst interessierte. Der war allerdings ein spezieller Typ, ein Holländer aus Amsterdam, der früher Drogen nahm und oft ein wenig abwesend wirkte. Ich habe später erfahren, warum. Er hatte im Streit einen Mann umgebracht.“

      „Was? Ein Mörder?“

      „Ein Totschläger. Es war Totschlag, nicht Mord. Das hat es mir versichert. Jan, hieß er.“

      „Und was ist da genau passiert?“

      „Das weiß ich nicht. Jan wollte nicht darüber sprechen. Er machte bloß ein paar Andeutungen, dass es vor einer Kneipe passiert ist.“

      „Und wurde er gefasst?“

      „Nein, ich glaube, er hat sich der Strafe entzogen. Jan war total okay, wirklich, ein absolut gutmütiger Kerl. Wenn du ihn gekannt hättest, hättest du ihm eine solche Geschichte nicht zugetraut.“

      Beim Verabschieden fragte ich ihn, wo er zurzeit wohne. Er nannte eine Adresse in der Nähe des Bahnhofs. Mir fiel ein, dass er in der Galerie in Begleitung von Frau Hauser gewesen war.

      „Frau Hauser wohnt auch dort, soviel ich weiß. In einer dieser schönen Seitenstraßen unweit des Hauptbahnhofs.“

      „Ja, stimmt. Sie ist übrigens meine Tante. Zurzeit habe ich noch ein Zimmer bei ihr, aber ich suche nach einer kleinen Wohnung. Also, wenn du mal etwas hören solltest.“

      4

      Meine Stimmung war in diesen Wochen vor allem von den düsteren Bildern der Katastrophe im Indischen Ozean geprägt. Doch manchmal kam mir selbst meine Arbeit als Journalist wie die Tätigkeit eines Bestatters vor. Wurde nicht täglich vom Sterben der Zeitungen berichtet? Geisterten nicht Totengräber durch die Redaktionen, die auf diesen, auf jenen und einen dritten Stuhl zeigten, woraufhin der betreffende Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zur Monatsfrist „freigesetzt“ wurde?

      Verglichen mit der Wucht eines Tsunamis, war das Zeitungssterben natürlich sanft; aber wem sein Job gekündigt, wem von heute auf morgen gesagt wurde, er werde im Haus nicht mehr gebraucht, der fühlte sich unter Umständen auf andere Weise wie weggespült und rang verzweifelt um Atem.

      Hauptsächlich belieferte ich mit meinen Artikeln eine große Tageszeitung, nachdem meine Arbeit für die übrigen Blätter im Lauf der Jahre unsicherer geworden war. Die verbliebene Zeitung lag jedoch ihrerseits im Sterben, und wenn wir freien Schreiber uns nicht sehr anstrengten und durch unsere schlecht bezahlten Beiträge ihren Zustand stabilisierten, drohte bald die letzte Ölung. Insgeheim plante ich eine Existenz jenseits des Journalismus. Meine Arbeit für ReFuge wies ja bereits in diese Richtung; dort durften die Gedanken frei schweifen, ohne Zwang zur Aktualität. In dieser Zeitschrift ging es nicht darum, Informationen zu vermitteln, die jeder schon irgendwo aufgeschnappt hatte und die am Abend niemand mehr interessierten. Wichtiger war hier, dass eine schöne Sprache gefunden wurde, eine Sprache, die sowohl jedem zugänglich als auch einprägsam war. Informationen und Faktenwissen waren überall zu erhalten,

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