Der Gestrandete. Volker Kaminski

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Der Gestrandete - Volker Kaminski Lindemanns

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habe schon so lange nicht mehr davon gesprochen. Es kommt mir vor, als wäre das in einem früheren Leben passiert.“

      „Warum isst du denn nichts?“, fragte Eveline und schenkte ihm wieder Wein nach.

      Ich sah, dass er Mühe hatte die Fassung zu wahren. Er sprach zwar weiter, aber der Schweiß auf seiner Stirn und sein stierer Blick verrieten mir, dass ihm das Thema zusetzte. In meiner Vorstellung war der Tsunami eine der schlimmsten Katastrophen, in die ein Mensch geraten konnte. Die Welt stand in diesem Moment kopf, alle Beziehungen lösten sich auf, jeder Halt wurde in den Strudel gerissen. Wenn Frank ein solches Chaos aus nächster Nähe – im ersten Stock des Hotels – miterlebt hatte, dann hatte er Momente schlimmster Verlassenheit, Ängste eines frei schwebenden Menschen im Weltall durchgemacht.

      Nach einer halben Stunde sagte er, er wolle gehen. Er bat mich, ihn kurz vor die Tür zu begleiten. Er müsse mir noch etwas sagen.

      Wir zogen unsere Jacken an und gingen auf die Straße. Es war ein dunstiger Maiabend. Ohne lange zu überlegen, ging ich auf die Alb zu, um auf den Spazierweg längs des Flüsschens zu gelangen. Er folgte mir die wenigen Treppenstufen hinunter, wir gingen über die kleine Brücke und blieben ans Geländer gelehnt vor dem rauschenden Wehr stehen.

      Frank blickte in das schäumende Wasser, das nur etwa zwei Meter vor uns durch die Schleusenanlage gejagt wurde. Es war ein gleichmäßiges Rauschen, das die Dunkelheit durchschnitt, ohne dass es einen zu sehr bedrängte.

      Nach ein paar Minuten sagte er seufzend: „Hätte ich doch auch die ganze Zeit hier leben können! Tagsüber das Büro. Abends ein bisschen an der Alb spazieren.“

      „Du hast dich in der Welt umgesehen. Ist doch auch nicht schlecht.“

      Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

      „Das Reisen wird allgemein überschätzt. Es ist ja doch nur das Sahnehäubchen auf dem unbegreiflichen Ganzen. Außerdem kann es einen aus der Bahn werfen und süchtig machen. Ich hätte mir lieber etwas aufbauen sollen. Jetzt muss ich mit über Vierzig noch mal von vorne anfangen. Mit Laien zusammen Theater spielen. Ich will nicht undankbar sein, ganz und gar nicht. Es ist ein großer Glücksfall, dass ich dich und deine Frau getroffen habe. Und dass Eveline mich in die Gruppe aufgenommen hat.“

      Ich spürte, dass er irgendeine Reaktion von mir erwartete, aber ich schwieg.

      „Du weißt nicht, wie wichtig das für mich ist“, fuhr er fort. „Ich war total am Ende, sah keinen Ausweg mehr. Und da treffe ich euch.“

      „Sag mal, wo hast du eigentlich deine spätere Frau kennengelernt?“

      „In Teneriffa. Nicki war auch Animateurin und wir haben lange zusammengearbeitet und uns angefreundet. Dann haben wir in Santa Cruz geheiratet. Nach einem dreiviertel Jahr war die Ehe schon kaputt.“

      „Das ist schwer vorstellbar.“

      „Alles ist schwer vorstellbar!“, sagte er plötzlich laut. „Wenn man hier steht, umgeben von dieser Fluss-Idylle, dieser wohl tuenden Sicherheit, diesem kleinen feinen Leben!“

      „Was willst du damit sagen?“

      Er schwieg, schaute ins Wasser und hielt das Geländer mit beiden Händen umklammert.

      „Warst du wirklich so lange auf Bali?“, fragte ich. „Hast du denn so dick geerbt, dass du dir das leisten konntest?“

      „Nein, natürlich nicht.“ Er seufzte und hob den Kopf. „Bali, das klingt für dich vermutlich nach Abenteuer, Exotik, Vulkane und Felsentempel und so weiter. Das ist dort alles zu sehen, aber ich war nicht als Tourist unterwegs. Ich habe in einem kleinen Strandressort als Callboy gearbeitet. Das war alles. Wäre der Tsunami nicht gekommen, würde ich wahrscheinlich heute noch dort arbeiten. Allerdings wird man auch nicht gerade jünger.“

      Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

      Etwas hilflos stammelte ich schließlich: „Als Callboy? ... Warum ...?“

      Er stieß einen verächtlichen Laut aus.

      „Ich hab das verdammte Geld gebraucht.“

      „Und jetzt willst du vermutlich, dass ich Eveline nichts davon sage?“

      „Nein, das ist nicht meine Sorge. Ich will nur, dass du mich nicht verachtest und schlecht über mich denkst. Mir ist der Kontakt zu euch absolut wichtig. Ich will euch nicht belügen. Darum bin ich so offen und erzähle es dir. Auch wenn’s mir nicht leicht fällt.“

      Sein Geständnis verblüffte mich tatsächlich. Wie hatte er in diese Lage kommen können sich zu prostituieren? Ich spürte eine Abneigung, ja eine Fremdheit, die nicht zu überbrücken war. Immerhin hatte er sich mir anvertraut und wirkte ziemlich kleinlaut. Bei allem Widerstand beeindruckte mich seine Offenheit. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass er noch mehr Geheimnisse besaß, die er mir Schritt für Schritt offenbaren würde. Vor allem aber war ich erleichtert, dass er trotz seiner scheinbar abenteuerlichen Reisen keinen glänzenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns um unser geordnetes Dasein beneidete.

      5

      Unser Alltag hatte sich seit diesem Frühjahr verändert. Johanna machte sich zu Hause rar, sie wollte kaum noch Zeit mit uns verbringen und traf sich lieber mit ihren Freundinnen. Auch zu Besuchen bei den Großeltern wollte sie nicht mehr mitkommen, was dazu führte, dass Lissi und Ernst uns noch häufiger zu sich einluden. Sie versuchten praktisch jeden zweiten Sonntag uns zum Mittagessen in ihre Wohnung am Stadtgarten zu lotsen. Mit viel diplomatischem Geschick bog Eveline in drei von vier Fällen einen Besuch ab, auch weil sie wusste, dass ich nicht viel Sinn für diese Familiensitzungen hatte. Dagegen war es eine Seltenheit, dass wir von ihnen Besuch bekamen. Sie schienen wenig Verlangen nach einer Rückkehr in ihr altes Haus zu haben, wobei Ernst noch eher dazu bereit war als Lissi, die manchmal genervt ausrief: „Ach, die alte Bretterbude will ich nicht mehr sehen!“

      Das war ungerecht dem schönen Haus gegenüber. Ich vermutete, dass sich Lissi ungern an die steilen Treppen im Haus erinnerte, die die Bewohner täglich zu Turmbesteigungen zwangen. Für Eveline und mich waren diese Treppen eine leicht genommene sportliche Übung. Ich hatte mir immer schon heimlich gewünscht in einer solchen Bürgervilla zu wohnen, wo eine alte Standuhr den Takt vorgab, während durch ein kleines vergittertes Fenster in der Diele und ein kaum größeres in der Küche ewiges Dämmerlicht fällt. Sicher waren es ausschließlich die Spuren von Evelines Eltern, die uns umgaben, aber Eveline verstand es, die nötigen Modernisierungen vorzunehmen, so dass nie der Eindruck entstand in einem Museum zu wohnen.

      Allerdings konnte ich zu Hause nicht effektiv arbeiten und musste, auch wenn es eine zusätzliche finanzielle Belastung bedeutete, ein kleines Büro unterhalten. Nur dort war ich frisch und geistig klar genug. Das Büro war leer, es gab keine Bilder an den Wänden und das Fenster zeigte die Kronen zweier Straßenbäume. Auf dem Schreibtisch lag immer ein ansehnlicher Papierstapel und ein paar kleine beschriftete Zettel, die eine Verbindung zum Unerledigten darstellten.

      Während der Arbeit musste ich unbedingt offline sein, um die Trägheit im Gehirn aus eigener Kraft zu besiegen. Falls ich zwischendurch Anregungen brauchte, ging ich hinunter in die Galerie Weinbrenner und drehte dort eine Runde durch die drei Räume, in denen stets wechselnde Ausstellungen zu sehen waren.

      Eines Nachmittags stieß ich dort auf eine Ausstellung, die Horror- und Albtraummotive zum Thema hatte. Es waren DIN A4-große Federzeichnungen und

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