Der Gestrandete. Volker Kaminski
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Gestrandete - Volker Kaminski страница 3
Sie hatten einen Probe- und Aufführungsraum mit angeschlossener Bar; der Zugang führte über einen hübsch gepflasterten Hinterhof. Das Ganze befand sich in einem Altbauensemble in der Südstadt. Eveline hatte über ihre Eltern einen persönlichen Kontakt zum Vermieter hergestellt, dem die Kultur in Karlsruhe am Herzen lag. Für die Miete des Proberaums und die Kosten der Aufführung kam hauptsächlich Eveline auf.
Zu Evelines Theaterarbeit habe ich eine klare Meinung: Ich finde sie großartig. Wenn ich sie auf der Bühne sehe und miterlebe, wie sie mit ihrer Rolle verschmilzt, entdecke ich jedes Mal eine neue Facette ihrer Persönlichkeit. In letzter Zeit hatte es jedoch einen Engpass gegeben, weil ein wichtiges Mitglied weggezogen und das neueste Vorhaben im Sande verlaufen war. Eveline suchte händeringend nach begabten Laienschauspielern, hatte aber nicht die Zeit Annoncen aufzugeben. So war es für sie natürlich ein Lichtblick, dass Frank aufgetaucht war.
„Ich fand sein Verhalten jedenfalls merkwürdig“, sagte ich. „Man dringt nicht in fremde Häuser ein. Was wollte er überhaupt in unserem Keller?“
Sie schaute eine Weile vor sich hin.
„Er ist ein Minimalist.“
„Was meinst du?“
„Er bringt mit wenigen Mitteln sehr viel zum Ausdruck. Zum Beispiel einfach nur gucken. Das ist bekanntlich sehr schwer, und den meisten gelingt das nicht überzeugend. Gucken und dabei derselbe bleiben, der man ist. Frank ist authentisch durch und durch.“
„Woher weißt du das? Du hast ihn doch vermutlich noch nicht spielen sehen.“
„Es ist mir gleich aufgefallen, mir und auch den anderen. Chargieren ist leicht, Grimmassen schneiden, mit den Armen fuchteln. Aber einfach nur dastehen, blicken, ruhig sprechen, das erfordert mehr. Bei Frank passt alles zusammen, Körperbeherrschung, Stimme, Individualität.“
Bestimmt hatte niemand in der Gruppe etwas von seinem frechen „Besuch“ bei uns erfahren. Eveline schien den Vorfall vom vorletzten Sonntag vergessen zu haben und erwähnte ihn mit keinem Wort. Frank habe ihnen sogar versprochen, demnächst ein neues Stück mitzubringen, einen Roman aus der Weltliteratur, den er zurzeit fürs Theater umschreibe.
Mich berührten diese Neuigkeiten wenig. Mein Beruf machte mir zunehmend zu schaffen; als freier Journalist durchlebte ich gerade eine anstrengende, nervenaufreibende Zeit.
Ich arbeitete täglich sechs bis acht Stunden in meinem Büro, schrieb Reportagen, Glossen und kleine Essays und belieferte damit verschiedene Zeitungen, doch der Anteil der abgedruckten Beiträge wurde jedes Jahr geringer. Dabei hatte ich in den zurückliegenden Jahren so viel veröffentlicht, dass ich glaubte inzwischen gewisse Rechte bei den Redakteuren zu besitzen. Da ich die Zeitung weiterhin in Papierform las, weigerte ich mich für Online-Portale zu schreiben. Ich gehörte zu den Leuten, die das Papier knistern hören wollten, die beim Lesen etwas anfassen und riechen mussten.
Da war es für mich kein geringer Trost, dass ich nebenbei eine zweite Aufgabe hatte. Ich arbeitete als verantwortlicher Redakteur eines kleinen Magazins, das mir sehr am Herzen lag: ReFuge, Zeitschrift für Prosa. Es war ein Magazin aus den 1980er Jahren, das bis heute überlebt hatte. Ihr Erscheinen war unregelmäßig, abhängig von der finanziellen Situation des Herausgebers. Wenn Alexander Mill, der Grandseigneur der Zeitschrift, genügend Geld zusammen hatte, rief er mich an, und ich begann Material für eine neue Ausgabe zu sammeln, selbst Geschichten zu schreiben und Texte von befreundeten Autoren zu einem Thema anzufordern. Mill vertraute mir hundertprozentig und ließ mir freie Hand bei der Auswahl der Beiträge. In den fünf Jahren, in denen wir zusammenarbeiteten, war manche glanzvolle ReFuge-Nummer dabei gewesen.
Das neue Heft – die Jubiläumsausgabe Nr. 50 – befand sich gerade in der Planung. Nach längerer Bedenkzeit hatte ich beschlossen, eine der schlimmsten Naturkatastrophen der jüngeren Vergangenheit zum Thema zu nehmen: den Tsunami im Indischen Ozean im Januar 2004. Die Katastrophe jährte sich dieses Jahr zum zehnten Mal; die schrecklichen Bilder der verwüsteten Küstenstädte, die Nachrichten über die unfassbar hohe Zahl an Toten und Betroffenen waren unvergessen.
ReFuge war aber eine Literaturzeitschrift und so sollten die Autoren keine Reportagen liefern. Es ging eher darum, Geschichten zu erzählen, in denen vergleichbare Szenarien eine Rolle spielten. Keine leichte Aufgabe! Ich war sehr gespannt, wie die Ergebnisse sein würden und ob es meinen Autoren gelang, eine Prosa zu schreiben, in der die Schockwellen der Angst und der blanke Terror entfesselter Naturkräfte spürbar waren. Ich selbst mühte mich mit Versuchen dieser Art ab, und so kam es, dass ich fast in jeder freien Minute in die Tasten haute.
Eines Morgens hatte ich mich wieder zwei Stunden mit einer Prosaskizze beschäftigt. Gegen Mittag verließ ich das Büro, um einen Spaziergang zu machen. Ich ging ein Stück die Uhlandstraße hinunter und bog in die Sophienstraße ein, bis ich zum Gutenbergplatz kam.
Mein Blick wanderte zu den Zweigen der Kastanien hinauf, an denen schon die ersten Knospen trieben. Der Gutenbergplatz war wie immer an marktfreien Tagen mit parkenden Autos zugestellt. Ich ging auf den Brunnen zu, ein steinernes Monument mit Verzierungen und einer Kuppel in Form eines Kohlkopfes. Der Brunnen war zwar alt, aber noch immer floss Wasser üppig aus den Rohren. Ich war in den Anblick des schäumenden Wassers vertieft, als mir jemand die Hand auf die Schulter legte.
Ich mag es nicht, wenn sich jemand von hinten anschleicht. In diesem Fall kam hinzu, dass ich den anderen auch noch ungern traf.
„Frank! Mein Gott, du hast mich erschreckt. Was treibst du hier?“
Er überging meine schroffe Begrüßung. „Hi, Sascha. Schön, dich zu sehen. Machst du auch gerade Mittagspause?“
Er schien bester Laune zu sein, trug nur ein dünnes Leinensakko, obwohl an diesem Tag keine Sonne schien und es höchstens 12 Grad warm war.
Bestimmt war er mit dem Auto unterwegs. Hatte er irgendwo in der Nähe meines Büros auf mich gewartet?
„Ich mache einen kleinen Spaziergang. Muss aber gleich wieder zurück.“
„Ach komm, gehen wir einen Kaffee trinken“, sagte er und wies mit einer Handbewegung auf die Häuserreihe gegenüber, wo ein Bistro war. Er ging wie selbstverständlich darauf zu und mir blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Ich kannte das Café, war aber schon monatelang nicht mehr dort gewesen. Es war nichts Besonderes, eine schlichte Bäckerei mit einem kleinen Gastraum, bestückt mit Tischen und Stühlen. Im vorderen Teil gab es einen schmalen Lounge-Bereich.
Als wir uns an einem schwarz lackierten Tisch in den tiefen Kunstledersesseln gegenübersaßen, spürte ich, dass meine anfängliche Abneigung gegen ihn nachließ. Vielleicht wollte er mit mir über seine Aktivitäten in der Theatergruppe sprechen. Immerhin hatte ich ihm den Weg dorthin geebnet.
„Ich bin immer noch begeistert, dass wir uns nach so langer Zeit wieder begegnet sind“, sagte er. „Ein solcher Zufall ereignet sich nur einmal im Leben.“
Mir fiel auf, wie reglos sein Gesicht dabei blieb. Die Augen schienen darin das einzig Lebendige. Er lächelte zwar, aber um seinen Mund herum bildete sich kaum ein Fältchen. Vielleicht hatte sich Eveline durch diese Gesichtsstarre täuschen lassen, als sie von seiner Professionalität schwärmte.
„Weißt du, wie lange das her ist?“, fragte er. „Über zwanzig