Harras - der feindliche Freund. Winfried Thamm

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Harras - der feindliche Freund - Winfried Thamm

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hatte ich schon früh abgehakt. Wer Kriege, den Holocaust und all das Elend der Welt zulässt, sollte nicht noch um Hilfe gebeten werden, hatte halt keine Existenzberechtigung. Dieser Gott war nur das Produkt menschlicher Unwissenheit, Hilflosigkeit und Angst vor Leid und Tod.

      Damit war auch schon die Frage nach dem Leben nach dem Tod mitbeantwortet. Gott ist tot, es lebe das Leben. Lise Meitner, die immer unbeachtete Wissenschaftlerin neben Otto Hahn, sagte einmal, dass der Grund oder die Rechtfertigung für das Leben das Leben an sich sei. Also, was ich habe ist mein Leben, vorher war ich nicht und nachher werde ich nicht sein. Ich bleibe höchstens noch in der Erinnerung von Menschen, die mich kannten, lebendig, auf geistiger Ebene, sozusagen. So ist eben mein Leben keine physikalische Versuchsanordnung, die beliebig wiederholbar ist unter entsprechend geänderten Prämissen, damit es endlich mal besser klappt oder glücklicher wird, nein, leider nein. Ich muss mich schon auf mein Eigenes und Einziges konzentrieren. Eben dieser Gedanke macht auch mein jetziges Dilemma aus. Ich wollte das Leben pur und bin auf die Schnauze gefallen. Und Harras ist schuld. Nein, so einfach ist es leider nicht. Ich suche Klarheit darüber, wer welche Anteile an dieser Schuld trägt, Harras, ich oder der gottverdammte Zufall, diese unberechenbare Monsterkomponente, die Willkür an sich, von uns Menschen weder beeinflussbar noch vorhersehbar und von manchen mit Gott verwechselt.

      Aber jetzt erst einmal weiter mit meinem Grundsatz-Statement, damit Sie, liebe Leserinnen und Leser besser begreifen, mit wem Sie es zu tun haben:

      Ich stelle auch nicht die hehren Ziele einer demokratisch und humanistisch orientierten Gesellschaft infrage. Ich bin für Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, für Menschenwürde, Menschenrechte, soziales Engagement und Frieden. Auch die privateren Ideale von Ehe, Partnerschaft, Treue und Ehrlichkeit, Pflichterfüllung, Freundschaft und Hilfsbereitschaft unterschreibe ich im Allgemeinen. Obwohl ich da in der Konsequenz der praktischen und alltäglichen Umsetzung schon meine Probleme sehe (auch das ist mein Dilemma!). Die Bequemlichkeit und die Verdrängung der menschlichen Probleme ist mir persönlich auch nicht fremd. Ja, ein Held bin ich nicht.

      Auch wenn das alles geklärt ist, theoretisch, und ich auch in der Praxis, im Alltag, mich zumindest mehr oder weniger erfolgreich bemühe, danach zu leben, stellt sich die Frage: Tue ich das mit Freude und Spaß oder eher mühevoll bis zwanghaft und immer schlecht gelaunt.

      Meine Warum-Fragen sind also nicht die nach dem Grund der menschlichen Existenz und nach dem Grund gesellschaftlicher Werte, sondern eher die nach der Motivation. Was macht mir Spaß, so zu leben oder anders zu leben? Woher kommt das gute oder schlechte Gefühl, wenn ich dies oder das tue? Oder anders formuliert:

      Was ist das, was was hat?

      Hätte ich mir diese Frage nie gestellt, würde mein Leben einen ganz normalen Weg nehmen, wäre ich jetzt eben nicht in diesem Desaster.

      Wäre Harras nicht wieder aufgetaucht, hätte ich mir diese Frage höchstens theoretisch erlaubt.

      Und Harras war damals jemand, der das hatte, was was hatte. Und der was tat, was was hatte. Und der immer noch was ist und was tut, was was hat. Diese Faszination des Chaos’, vielleicht auch des Bösen und Unmoralischen, die Verlockung des Andersseins und Andersdenkens, der Reiz des Hinterfragens aller Werte und deren Negation. Harras ist frei. Und das hat was. Das ist der Kick.

      Kapitel 7

      Mitte September 2000

      Wieder zurück zu meiner Geschichte:

      Nach dem Fest erzählte ich meiner Frau von dem belebenden Abend mit alten, lange nicht gesehenen Freunden und auch von Harras, der ihr von meinen Erzählungen aus meiner Vergangenheit schon bekannt war.

      Sie hörte amüsiert zu und sagte noch ironisch, als sie meine Begeisterung in meinen Schilderungen wahrnahm: „Der Antichrist ist wohl aus der Hölle wieder auf die Erde geklettert.“

      Wie recht sie hatte. Aber alles der Reihe nach.

      Etwa vier Wochen nach diesem legendären Fest klingelte spät abends, es war schon nach zwölf, das Telefon. Ich saß im Arbeitszimmer und las einen Krimi. Unter dem Einfluss der gruseligen Lektüre und der nachtschlafenden Zeit nahm ich besorgt das Telefon ab und meldete mich.

      „Guten Abend auch. Harras hier. Herr Biedermann ist noch wach?“

      Ich sah förmlich sein ironisches Grinsen und ärgerte mich.

      „Wenn du den Herrn Biedermann so verachtest, warum rufst du ihn dann mitten in der Nacht an, du Geier?“

      „Pack das Messer wieder ein. Morgen ist Samstag, hast du abends schon was vor?“, fragte er versöhnlich. „Zufällig ist mir Reiner, der Wirt von der „Goldenen Stadt“ von damals, über den Weg gelaufen, du weißt, wen ich meine. Und der erzählte mir, dass er jetzt ein schickes Restaurant in Rüttenscheid hat. „Chez René“ hat es der alte Großkotz genannt. Da habe ich für morgen einen Tisch bestellt, für uns beide. Also bis morgen um acht, Annastraße 5.“ Und schon hatte er aufgelegt.

      „Halt, ich hab doch noch gar nicht ... So ein arrogantes Arschloch!“, ärgerte ich mich.

      „Das muss dein Teufelsfreund gewesen sein, stimmt’s?“, lästerte Helen aus dem Hintergrund. „Ich wette, du gehst hin.“

      „Ja, hast schon gewonnen.“

      Am nächsten Abend erreichte ich um fünf nach acht das „Chez René“, als jemand von innen an die Scheibe klopfte und mich herein winkte. Es war Reiner. Er sah kaum älter aus als vor zehn Jahren, als ich ihn das letzte Mal beim Kabarett in der Lichtburg getroffen hatte. Nur seine Haare waren sehr dünn und grau worden.

      „Hey, altes Haus, wir haben uns ja Ewigkeiten ...“ „... nicht mehr gesehen“, ergänzte ich, als mich Reiner in seine langen Arme nahm und an seine fette Wampe drückte, als sei ich sein vermisster und tot geglaubter Bruder. Als er mich endlich wieder freigab, sah ich mich in seinem Laden um und entdeckte Harras an der Theke, auf einem Barhocker sitzend.

      „Einen schmucken Laden hast du ja hier aufgetan. Gratuliere, so ’was Feines hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

      Dann wandte ich mich an Harras: „Grüß dich Harras, seit wann bist du denn schon hier?“

      „Seit Punkt acht. Ich pflege pünktlich zu sein“, sagte er mit der Betonung auf „Ich“.

      „Jetzt stell’ dich nicht so an, ich war um fünf nach hier, also auch quasi pünktlich.“

      „Kommt Jungs, streitet nicht. Hier, für jeden ein Glas kühlen Weißen vom Feinsten und dann zeige ich euch erst mal mein Geschäft.“

      Er winkte einer sehr jungen und sehr hübschen Kellnerin, die den Wein eingoss und die Gläser verteilte.

      „Das ist unser Azubi Sabrina von der Hotelfachschule, die heute freiwillig hier ist, um euch zu bedienen und noch was dazuzulernen. Das nennt man Einsatz, was Jungs?!“, lachte Reiner laut.

      Dann führte er uns vom staubigen Keller voller Weine über Vorratskammern und Kühlräume durch sein chaotisches Büro in das Herzstück seines Stolzes, die Restaurantküche. Alles glänzte aus Edelstahl und sah großzügig und sehr professionell aus. Er stellte uns seinen Chefkoch August vor und sprach seinen Namen französisch aus. Wir begutachteten alles kritisch, auch den Koch, als wären wir von der Gewerbeaufsicht und lobten schließlich den ganzen Laden über den grünen Klee.

      „Meine Crew

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