Königliche Hoheit. Thomas Mann
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Sie nannten es »Stöbern«, und der Reiz des »Stöberns« war groß; denn es war schwer, mit dem Grundriß und Aufbau des alten Schlosses vertraut zu werden, und jedesmal, wenn sie weit genug ins Entlegene vordrangen, fanden sie Stuben, Gelasse und öde Säle auf, die sie noch nie betreten hatten, oder doch seltsame Umwege zu bekannten Räumen. Aber einmal bei solchem Streifen hatten sie eine Begegnung, stieß ihnen ein Abenteuer zu, das, äußerlich unscheinbar, Klaus Heinrichs Seele doch mächtig ergriff und belehrte.
Gelegenheit bot sich. Während Madame aus der Schweiz sich in Urlaub zum Nachmittagsgottesdienst befand, hatten sie bei der Großherzogin in Gesellschaft zweier Ehrendamen ihre Milch aus Teetassen getrunken, waren entlassen und angewiesen worden, Hand in Hand in die unfernen Kinderzimmer zu ihren Beschäftigungen zurückzukehren. Er bedürfe keines Geleites; Klaus Heinrich sei groß genug, Ditlinden zu führen. Das war er; und auf dem Korridor sagte er: »Ja, Ditlind, wir wollen nun allerdings in die Kinderzimmer zurückkehren, aber es ist nicht nötig, weißt du, daß wir es auf dem kürzesten, langweiligsten Wege tun. Wir wollen zuerst ein bißchen stöbern. Wenn man eine Treppe höher steigt und den Gang verfolgt, bis die Gewölbe anfangen, so ist da hinten ein Saal mit Pfeilern. Und wenn man von dem Saal mit den Pfeilern die Wendeltreppe hinaufklettert, die hinter der einen Tür ist, dann kommt man in ein Zimmer mit hölzerner Decke, wo eine Menge sonderbare Sachen herumliegen. Aber was hinter diesem Zimmer kommt, das weiß ich noch nicht, und das wollen wir auskundschaften. Nun gehen wir also.«
»Ja, gehen wir,« sagte Ditlinde, »aber nicht zu weit, Klaus Heinrich, und nicht, wo es zu staubig ist, denn auf meinem Kleide sieht man alles.«
Sie trug ein Kleidchen aus dunkelrotem Sammet, mit Atlas von derselben Farbe besetzt. Sie hatte damals Grübchen in den Ellenbogen und goldblankes Haar, das sich in Locken gleich Widderhörnern um ihre Ohren legte. Später wurde sie aschblond und mager. Auch sie hatte die breiten, ein wenig zu hoch sitzenden Wangenknochen ihres Vaters und Volkes, aber sie waren zart gebildet, so daß sie der Feinheit ihres herzförmigen Gesichtchens keinen Abbruch taten. Aber bei ihm waren sie kräftig und ausgeprägt, so daß sie seine stahlfarbenen Augen ein wenig zu bedrängen, zu verengern und ihren Schnitt in die Länge zu ziehen schienen. Sein dunkles Haar war seitwärts glatt gescheitelt, an den Schläfen mit Genauigkeit rechtwinklig beschnitten und schräg aus der Stirn hinweggebürstet. Er trug eine offene Jacke mit hochgeschlossener Weste und weißem Fallkragen. In seiner Rechten hielt er Ditlindens Händchen, aber sein linker Arm hing dünn und zu kurz mit seiner bräunlichen, runzligen und unentwickelten Hand von der Schulter hinab. Er war froh, sie sorglos hängen lassen zu dürfen und nicht geschickt verbergen zu müssen; denn niemand war da, der schaute und verschönt und erhoben sein wollte, und er selbst durfte schauen und forschen für sein eigenes Herz.
So gingen sie und stöberten, wie sie Lust hatten. Ruhe herrschte in den Korridoren, und sie sahen kaum von fern einen Lakaien. Sie stiegen eine Treppe höher und verfolgten den Gang, bis die Gewölbe begannen und sie also in dem Teil des Schlosses waren, der aus den Zeiten Johanns des Gewalttätigen und Heinrichs des Bußfertigen stammte, wie Klaus Heinrich wußte und erklärte. Sie kamen in den Saal mit den Pfeilern, und Klaus Heinrich pfiff dort mehrere Töne schnell nacheinander, weil die ersten noch hallten, wenn der letzte kam, und so ein heller Akkord unter dem Kreuzbogen schwebte. Sie kletterten tastend und manchmal auf Händen und Füßen die steinerne Wendeltreppe hinan, die hinter einer der schweren Türen mündete, und kamen in das Zimmer mit der hölzernen Decke, wo sich mehrere seltsame Gegenstände befanden. Es gab dort einige täppisch große, zerbrochene Flinten mit dick verrosteten Schlössern, die wohl zu schlecht fürs Museum gewesen waren, und einen Thronsessel außer Dienst mit zerrissenem roten Sammetpolster, kurzen, weit geschwungenen Löwenbeinen und schwebenden Kinderchen oberhalb der Rückenlehne, die eine Krone trugen. Dann aber war da ein arg verbogenes und verstaubtes, käfigartiges und gräßlich anmutendes Ding, das sie lange und sehr beschäftigte. Trog sie nicht alles, so war es eine Rattenfalle, denn man erkannte die eiserne Spitze, woran der Speck zu befestigen war, und furchtbar zu denken, wie hinter dem großen und widrig bissigen Tier die Klapptür niedergefallen war … Ja, das nahm Zeit in Anspruch, und als sie sich von der Falle aufrichteten, waren ihre Gesichter erhitzt, und ihre Kleider starrten von Rost und Staub. Klaus Heinrich klopfte sie beide ab, aber das machte nicht vieles gut, denn seine Hände waren ebenfalls grau. Und plötzlich sahen sie, daß die Dämmerung vorgeschritten war. Sie mußten rasch umkehren, Ditlinde bestand ängstlich darauf; es war zu spät geworden, noch weiter vorzudringen.
»Das ist unendlich schade«, sagte Klaus Heinrich. »Wer weiß, was wir noch entdeckt hätten und wann wir wieder Gelegenheit zum Stöbern bekommen, Ditlinde!« Aber er folgte der Schwester doch, und sie sputeten sich, die Wendeltreppe wieder zurückzulegen, durchquerten den Pfeilersaal und traten hinaus in den Bogengang, um eilig und Hand in Hand den Heimweg aufzunehmen.
So wanderten sie eine Strecke; aber Klaus Heinrich schüttelte den Kopf, denn ihm schien, als sei dies der Weg nicht, den sie gekommen waren. Sie wanderten weiter; aber mehrere Anzeichen bewiesen, daß sie die Richtung verfehlt hatten. Diese steinerne Bank mit den Greifenköpfen war hier vorhin nicht gestanden. Dies spitze Fenster ging auf den westlichen, tiefer gelegenen Stadtteil statt auf den inneren Hof mit dem Rosenstock. Sie gingen irr, es half nichts, das fortzuleugnen; sie hatten vielleicht den Saal mit den Pfeilern durch einen falschen Ausgang verlassen und hatten sich jedenfalls gründlich verlaufen.
Sie gingen ein Stückchen zurück, aber ihre Unruhe litt den Rückschritt nicht lange, und so machten sie wiederum kehrt und zogen es vor, bei dem einmal eingeschlagenen Weg aufs Geratewohl zu beharren. Sie gingen in dumpfer, eingeschlossener Luft, und große, ungestört ausgearbeitete Spinngewebe breiteten sich in den Winkeln aus; sie gingen in Sorge, und Ditlinde zumal war reuevoll und dem Weinen nah. Man werde ihr Ausbleiben bemerken, sie traurig ansehen, vielleicht gar dem Großherzog Meldung machen; sie würden niemals den Weg finden, vergessen werden und Hungers sterben. Und wo eine Rattenfalle sei, Klaus Heinrich, da seien auch Ratten … Klaus Heinrich tröstete sie. Es gelte einzig, die Stelle zu finden, wo an der Wand die Harnische und gekreuzten Fahnen hingen; von diesem Punkte an sei er der Richtung sicher. Und plötzlich – sie hatten eben ein Knie des Wandelganges zurückgelassen – plötzlich geschah etwas. Sie schraken zusammen.
Was sie hörten, war mehr, als der Widerhall ihrer eigenen Schritte; es waren andere, fremde, schwerer als ihre, sie kamen ihnen bald rasch, bald zögernd entgegen und waren von einem Schnaufen und Brummen begleitet, das ihnen das Blut erstarren ließ. Ditlind machte Miene, davonzulaufen vor Schrecken; aber Klaus