Königliche Hoheit. Thomas Mann

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Königliche Hoheit - Thomas Mann

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      Vorübergehend erwachte der Prinz; aber die flimmernden Flämmchen der Altarkerzen und eine farbige Säule durchsonnten Staubes blendeten ihn, so daß er die Augen wieder schloß. Und da keine Gedanken, sondern nur sanfte, gegenstandslose Träume in seinem Kopfe waren, da er auch im Augenblick keinerlei Schmerz empfand, so schlief er sofort wieder ein.

      Er erhielt eine Menge Namen, während er schlief; aber die Hauptnamen waren: Klaus Heinrich.

      Und er schlief in seinem Bettchen mit Goldleisten und blauseidener Gardine noch fort, während ihm zu Ehren im Marmorsaale Familientafel und im Rittersaale Tafel für die übrigen Taufgäste stattfand.

      Die Zeitungen besprachen sein erstes Auftreten; sie schilderten sein Äußeres und seine Toilette, sie stellten fest, daß er sich wahrhaft prinzlich benommen habe, und kleideten die rührende und erhebende Wirkung in Worte, die seine Erscheinung ausgeübt hatte. Dann hörte die Öffentlichkeit längere Zeit wenig von ihm und er nichts von ihr.

      Er wußte noch nichts, begriff noch nichts, nichts ahnte ihm von der Schwierigkeit, Gefährlichkeit und Strenge des Lebens, das ihm vorgeschrieben war; seine Lebensäußerungen ließen nicht die Vermutung zu, daß er sich in irgendeinem Gegensatz zur großen Menge fühle. Sein kleines Dasein war ein verantwortungsloser, von außen sorgfältig geleiteter Traum, der sich auf einem schwer übersichtlichen Schauplatze abspielte; und dieser Schauplatz war von überaus zahlreichen und farbigen Erscheinungen, statierenden und agierenden, bevölkert, flüchtig auftauchenden und solchen, die beharrten.

      Unter den beharrenden waren die Eltern fern, recht fern und nicht vollkommen deutlich. Sie waren seine Eltern, das war gewiß, und sie waren erhaben und freundlich. Nahten sie sich, so war der Eindruck dieser, als ob alles übrige nach beiden Seiten zurückwiche und eine Gasse der Ehrfurcht bildete, durch die sie zu ihm schritten, um ihm einen Augenblick Zärtlichkeit zu erweisen … Am nächsten und deutlichsten waren zwei Frauen mit weißen Hauben und Schürzen, zwei vollkommen gute, reine und liebevolle Wesen augenscheinlich, die seinen kleinen Leib auf jede Art pflegten und sich sehr um sein Weinen kümmerten … Ein naher Teilnehmer am Leben war auch Albrecht, sein Bruder; aber er war ernst, ablehnend und weit vorgeschritten.

      Als Klaus Heinrich zwei Jahre alt war, fand nochmals Geburt auf Grimmburg statt, und eine Prinzessin kam zur Welt. Sechsunddreißig Schüsse wurden ihr zugemessen, weil sie weiblichen Geschlechts war, und in der Taufe ward sie Ditlinde genannt. Das war Klaus Heinrichs Schwester, und daß sie erschien, war ein Glück für ihn. Sie war anfangs befremdend klein und verletzlich, aber bald ward sie ihm gleich, holte ihn ein und war bei ihm den ganzen Tag. Mit ihr lebte er, mit ihr schaute, erfuhr, begriff er, im Zwiegefühl mit ihr empfing er die gemeinsame Welt.

      Es war eine Welt, es waren Erfahrungen, danach angetan, nachdenklich zu stimmen. Wo sie im Winter wohnten, war das Alte Schloß. Wo sie im Sommer wohnten, am Fluß, in der Kühle, im Duft der violetten Hecken, zwischen denen weiße Statuen standen, war Hollerbrunn, die Sommerresidenz. Auf dem Wege dorthin, oder wenn sonst Papa oder Mama sie mit sich in einen der braun lackierten Wagen mit der kleinen goldenen Krone am Schlage nahmen, standen die übrigen Menschen, riefen und grüßten; denn Papa war Fürst und Herr über das Land, und folglich waren sie selbst ein Prinz und eine Prinzessin – bestätigtermaßen durchaus in demselben Sinne, in welchem die Prinzen und Prinzessinnen in den französischen Märchen es waren, die Madame aus der Schweiz ihnen vorlas. Dies war des Verweilens wert und ohne Frage ein Sonderfall. Wenn andere Kinder die Märchen hörten, so blickten sie auf die Prinzen, von denen sie handelten, notwendig aus großem Abstand und wie auf festliche Wesen, deren Rang eine Verherrlichung der Wirklichkeit war, und mit denen sich zu beschäftigen ihnen zweifellos eine Verschönerung der Gedanken und Erhebung über den Wochentag bedeutete. Aber Klaus Heinrich und Ditlind blickten auf jene Gestalten als auf ihresgleichen und in gelassener Ebenbürtigkeit, sie atmeten dieselbe Luft wie sie, sie wohnten in einem Schlosse gleich ihnen, sie standen mit ihnen auf brüderlichem Fuße und erhoben sich nicht über das Wirkliche, wenn sie lauschend eins mit ihnen wurden. Lebten sie also beständig und immerdar auf jener Höhe, zu welcher andere nur aufstiegen, wenn sie Märchen hörten? Madame aus der Schweiz hätte es ihrem ganzen Verhalten gemäß nicht leugnen können, wenn die Frage in Worte zu bringen gewesen wäre.

      Madame aus der Schweiz war eine calvinistische Pfarrerswitwe, die für sie beide da war, während jedes von ihnen zwei besondere Kammerfrauen hatte. Madame war ganz schwarz und weiß: ihr Häubchen war weiß und schwarz ihr Kleid, weiß war ihr Antlitz mit der ebenfalls weißen Warze auf einer Wange und schwarzweiß gemischt ihr metallisch glattes Haar. Sie war sehr genau und leicht zu entsetzen. Sie blickte zu Gott empor und schlug ihre weißen Hände zusammen bei Dingen, die ohne Gefahr und dennoch unzulässig waren. Aber ihr stillstes und schwerstes Zuchtmittel für ernste Fälle war dies, daß sie die Kinder »traurig ansah« … man hatte sich vergessen. Von einem bestimmten Tage an begann sie, auf eine Weisung hin, Klaus Heinrich und Ditlind »Großherzogliche Hoheit« zu nennen und war nun noch leichter entsetzt …

      Jedoch Albrecht hieß »Königliche Hoheit«. – Tante Katharinens Kinder gehörten nicht zum Mannesstamm der Familie, wie sich erwies, und waren also von minderer Bedeutung. Aber Albrecht war Erbgroßherzog und Thronfolger, womit nicht schlecht übereinstimmte, daß er so blaß und abweisend schien und viel im Bette lag. Er trug österreichische Joppen mit Klappentaschen und Rückenzug. Er hatte einen nach hinten ausladenden Schädel mit schmalen Schläfen und ein längliches kluges Gesicht. Sehr klein noch hatte er eine schwere Krankheit zu bestehen gehabt, gelegentlich welcher, nach Generalarzt Eschrichs Behauptung, sein Herz vorübergehend »auf die rechte Seite gewandert« war. Auf jeden Fall hatte er den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen, und das mochte die scheue Würde, die ihm eigen war, wohl sehr verstärkt haben. Er schien von äußerster Zurückhaltung, kalt aus Befangenheit und stolz aus Mangel an Anmut. Er lispelte ein wenig und errötete dann darüber, da er sich scharf in Obacht hielt. Seine Schulterblätter waren ein wenig ungleichmäßig gestellt. Sein eines Auge war mit einer Schwäche behaftet, und so bediente er sich beim Anfertigen seiner Aufgaben einer Brille, die dazu beitrug, ihn alt und klug zu machen … Unverbrüchlich hielt sich an Albrechts linker Seite sein Erzieher, der Doktor Veit, ein Mann mit hängendem, lehmfarbenem Schnurrbart, hohlen Wangen und blassen, unnatürlich erweiterten Augen. Zu jeder Stunde war Doktor Veit in Schwarz gekleidet, indem er ein Buch, zwischen dessen Blättern sein Zeigefinger steckte, an seinem Oberschenkel herniederhängen ließ.

      Klaus Heinrich fühlte sich von Albrecht gering geschätzt, und er sah ein, daß es nicht nur wegen seiner Rückständigkeit an Jahren so war. Er selbst war weichmütig und zu Tränen geneigt, das war seine Natur. Er weinte, wenn man ihn »traurig ansah«, und als er sich an einer Ecke des großen Spieltisches die Stirn stieß, daß es blutete, klagte er laut aus Mitleid mit seiner Stirn. Aber Albrecht hatte den Tod gesehen und weinte doch unter keiner Bedingung. Er schob ein wenig seine kurze, gerundete Unterlippe empor, indem er leicht damit an der oberen sog – das war alles. Er war vornehm. Madame aus der Schweiz wies in Fragen des comme il faut ausdrücklich auf ihn als Muster hin. Nie hätte er sich mit den prächtigen aufgeschirrten Zierleuten, die zum Schlosse gehörten und nicht eigentlich Männer und Menschen, sondern Lakaien waren, in ein Gespräch eingelassen, wie Klaus Heinrich es damals in unbewachten Augenblicken zuweilen tat. Denn Albrecht war nicht neugierig. Seine Augen blickten einsam und ohne Verlangen, die Welt zu sich einzulassen. Klaus Heinrich dagegen plauderte mit den Lakaien aus diesem Verlangen und aus einem drängenden, wenn auch vielleicht gefährlichen und ungehörigen Wunsche, sein Herz berühren zu lassen von dem, was etwa jenseits der Grenzen war. Aber die Lakaien, die alten und jungen, an den Türen, auf den Korridoren und in den Durchgangszimmern, mit ihren sandfarbenen Gamaschen und braunen Fräcken, auf deren rötlich-goldenen Tressen sich viele Male die kleine Krone vom Wagenschlag wiederholte – sie machten die Knie fest, wenn Klaus Heinrich mit ihnen plauderte, legten die großen Hände an die Nähte ihrer dicken Sammethosen, ließen sich dabei ein wenig zu ihm herab, daß die Fangschnüre ihnen von den Schultern baumelten, und gaben leere, geziemende Antworten, an denen die Anrede »Großherzogliche Hoheit« das Gewichtigste

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