Königliche Hoheit. Thomas Mann
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Wieder betrachtete der Doktor still und aufmerksam diesen entrückten und gebietenden Herrn, zu dem ganz kürzlich die Kunde gedrungen war, daß man neuerdings von Vererbung spreche. Er antwortete einfach: »Verzeihung, Königliche Hoheit; aber von Vererbung kann in dem vorliegenden Fall auch gar nicht die Rede sein.«
»Ach! Wirklich nicht!« sagte der Großherzog ein wenig spöttisch. »Ich empfinde das als Genugtuung. Aber wollen Sie mir freundlichst sagen, wovon denn eigentlich die Rede sein kann.«
»Ganz gern, Königliche Hoheit. Die Mißbildung hat eine rein mechanische Ursache, ja. Sie ist bewirkt worden durch eine mechanische Hemmung während der Entwicklung des Fruchtkeimes. Solche Mißbildungen nennen wir Hemmungsbildungen, ja.«
Der Großherzog horchte mit einem ängstlichen Ekel; er fürchtete sichtlich die Wirkung jedes neuen Wortes auf seine Empfindlichkeit. Er hielt die Brauen zusammengezogen und den Mund geöffnet; seine beiden in den Bart verlaufenden Furchen schienen noch tiefer dadurch. Er sagte: »Hemmungsbildungen … Aber wie in aller Welt … ich kann nicht zweifeln, daß jede Sorgfalt angewandt worden ist …«
»Hemmungsbildungen,« antwortete Doktor Sammet, »können auf verschiedene Weise entstehen. Aber man kann mit ziemlicher Gewißheit sagen, daß in unserem Falle … in diesem Falle das Amnion die Schuld trägt.«
»Ich muß bitten … ›Das Amnion‹ …«
»Das ist eine der Eihäute, Königliche Hoheit. Ja. Und unter gewissen Umständen kann sich die Abhebung dieser Eihaut vom Embryo verzögern und so schwerfällig vor sich gehen, daß sich Fäden und Stränge zwischen beiden ausziehen … amniotische Fäden, wie wir sie nennen, ja. Diese Fäden können gefährlich werden, denn sie können ganze Gliedmaßen des Kindes umschlingen und umschnüren, können zum Beispiel einer Hand völlig die Lebenswege unterbinden und sie allenfalls amputieren, ja.«
»Mein Gott … amputieren. Man muß also noch dankbar sein, daß es nicht zu einer Amputation der Hand gekommen ist?«
»Das hätte geschehen können. Ja. Aber es hat mit einer Abschnürung und infolge davon mit einer Atrophie sein Bewenden gehabt.«
»Und das war nicht zu erkennen, nicht vorauszusehen, nicht zu verhindern?«
»Nein, Königliche Hoheit. Durchaus nicht. Es steht ganz fest, daß niemanden irgendwelches Verschulden trifft. Solche Hemmungen tun im Verborgenen ihr Werk. Wir sind ohnmächtig ihnen gegenüber. Ja.«
»Und die Mißbildung ist unheilbar? Die Hand wird verkümmert bleiben?«
Doktor Sammet zögerte, er sah den Großherzog gütig an.
»Ein völliger Ausgleich wird sich nicht herstellen, das nicht«, sagte er behutsam. »Aber auch die verkümmerte Hand wird sich doch verhältnismäßig ein wenig entwickeln, o ja, das immerhin …«
»Wird sie brauchbar sein? Gebrauchsfähig? Beispielsweise … zum Halten des Zügels oder zu Handbewegungen, wie man sie macht …«
»Brauchbar … ein wenig … Vielleicht nicht sehr. Auch ist ja die rechte Hand da, die ganz gesund ist.«
»Wird es sehr sichtbar sein?« fragte der Großherzog und forschte sorgenvoll in Doktor Sammets Gesicht … »Sehr auffällig? Wird es die Gesamterscheinung sehr beeinträchtigen, meinen Sie?«
»Viele Leute«, antwortete Doktor Sammet ausweichend, »leben und wirken unter schwereren Beeinträchtigungen. Ja.«
Der Großherzog wandte sich ab und tat einen Gang durch das Gemach. Doktor Sammet machte ihm ehrerbietig Platz dazu, indem er sich bis zur Tür zurückzog. Schließlich nahm der Großherzog wieder am Schreibtisch Stellung und sagte:
»Ich bin nun unterrichtet, Herr Doktor; ich danke für Ihren Vortrag. Sie verstehen Ihre Sache, das ist keine Frage. Warum leben Sie in Grimmburg? Warum praktizieren Sie nicht in der Residenz?«
»Ich bin noch jung, Königliche Hoheit, und bevor ich mich in der Hauptstadt einer Spezialpraxis widme, möchte ich mich einige Jahre lang recht vielseitig beschäftigen, auf alle Weise üben und umtun. Dazu bietet ein Landstädtchen wie Grimmburg die beste Gelegenheit. Ja.«
»Sehr ernst, sehr respektabel. Welchem Spezialgebiet denken Sie sich später zuzuwenden?«
»Den Kinderkrankheiten, Königliche Hoheit. Ich beabsichtige, Kinderarzt zu werden. Ja.«
»Sie sind Jude?« fragte der Großherzog, indem er den Kopf zurückwarf und die Augen zusammenkniff …
»Ja, Königliche Hoheit.«
»Ah. – Wollen Sie mir noch die Frage beantworten … Haben Sie Ihre Herkunft je als ein Hindernis auf Ihrem Wege, als Nachteil im beruflichen Wettstreit empfunden? Ich frage als Landesherr, dem die bedingungslose und private, nicht nur amtliche Geltung des paritätischen Prinzips besonders am Herzen liegt.«
»Jedermann im Großherzogtum«, antwortete Doktor Sammet, »hat das Recht zu arbeiten.« Aber dann sagte er noch mehr, setzte beschwerlich an, ließ ein paar zögernde Vorlaute vernehmen, indem er auf eine linkisch-leidenschaftliche Art seinen Ellenbogen wie einen kurzen Flügel bewegte, und fügte mit gedämpfter, aber innerlich eifriger und bedrängter Stimme hinzu: »Kein gleichstellendes Prinzip, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, wird je verhindern können, daß sich inmitten des gemeinsamen Lebens Ausnahmen und Sonderformen erhalten, die in einem erhabenen oder anrüchigen Sinne vor der bürgerlichen Norm ausgezeichnet sind. Der einzelne wird gut tun, nicht nach der Art seiner Sonderstellung zu fragen, sondern in der Auszeichnung das Wesentliche zu sehen und jedenfalls eine außerordentliche Verpflichtung daraus abzuleiten. Man ist gegen die regelrechte und darum bequeme Mehrzahl nicht im Nachteil, sondern im Vorteil, wenn man eine Veranlassung mehr als sie zu ungewöhnlichen Leistungen hat. Ja. Ja«, wiederholte Doktor Sammet. Es war die Antwort, die er mit zweimaligem Ja bekräftigte.
»Gut … nicht übel, sehr bemerkenswert wenigstens«, sagte der Großherzog abwägend. Etwas Vertrautes, aber auch etwas wie eine Ausschreitung schien ihm in Doktor Sammets Worten zu liegen. Er verabschiedete den jungen Mann mit den Worten: »Lieber Doktor, meine Zeit ist gemessen. Ich danke Ihnen. Diese Unterredung – von ihrer peinlichen Veranlassung abgesehen – hat mich sehr befriedigt. Ich mache mir das Vergnügen, Ihnen das Albrechtskreuz dritter Klasse mit der Krone zu verleihen. Ich werde mich Ihrer erinnern. Ich danke.«
Dies war das Gespräch des Grimmburger Arztes mit dem Großherzog. Ganz kurz darauf verließ Johann Albrecht die Burg und kehrte mit Extrazug in die Residenz zurück, hauptsächlich um sich der festlich bewegten Bevölkerung zu zeigen, dann aber auch, um im Stadtschloß mehrere Audienzen zu erteilen. Es stand fest, daß er abends auf die Stammburg zurückkehren und für die nächsten Wochen dort Wohnung nehmen würde.
Alle Herren, welche sich zu der Entbindung auf Grimmburg eingefunden hatten und nicht zum Hofstaat der Großherzogin gehörten, wurden ebenfalls von dem Extrazuge der unrentablen Lokalbahn aufgenommen und fuhren zum Teil in unmittelbarer Gesellschaft des Monarchen. Aber den Weg von der Burg zur Station legte der Großherzog allein mit dem Staatsminister von Knobelsdorff im offenen Landauer zurück, einem der braun lackierten Hofwagen mit der kleinen goldenen Krone am Schlage. Die weißen Federn auf dem Hute des Leibjägers vorn flatterten im Sommerwinde. Johann Albrecht war ernst und stumm auf dieser Fahrt, zeigte sich bedrückt und grämlich; und obgleich Herr von Knobelsdorff wußte, daß der Großherzog es auch im intimen Verkehr schlecht ertrug, daß man ungefragt und