Königliche Hoheit. Thomas Mann
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»Ach, lieber Knobelsdorff,« antwortete Johann Albrecht gereizt und beinahe weinerlich, »Sie werden mir meine Verstimmung nachsehen, Sie werden nicht geradezu verlangen, daß ich trällere. Ich sehe keinerlei Veranlassung dazu. Die Großherzogin befindet sich wohl – nun gewiß. Und das Kind ist ein Knabe – nochmals gut. Aber da kommt es nun mit einer Atrophie zur Welt, einer Hemmungsbildung, veranlaßt durch amniotische Fäden. Niemand hat schuld daran, es ist ein Unglück. Aber die Unglücksfälle, an denen niemand schuld ist, das sind die eigentlich schrecklichen Unglücksfälle, und der Anblick des Fürsten soll seinem Volke andere Empfindungen erwecken als Mitleid. Der Erbgroßherzog ist zart, man muß beständig für ihn fürchten. Es war ein Wunder, daß er vor zwei Jahren die Rippenfellentzündung überstand, und es wird nicht viel weniger als ein Wunder sein, wenn er zu Jahren gelangt. Nun schenkt mir der Himmel einen zweiten Sohn – er scheint kräftig, aber er kommt mit einer Hand zur Welt. Die andere ist verkümmert, unbrauchbar, eine Mißbildung, er muß sie verstecken. Welche Erschwerung! Welch Hindernis! Er muß es beständig vor der Welt bravieren. Man wird es allmählich bekanntmachen müssen, damit es bei seinem ersten öffentlichen Hervortreten nicht allzu anstößig wirkt. Nein, ich komme noch nicht hinweg darüber. Ein Prinz mit einer Hand …«
»Mit einer Hand«, sagte Herr von Knobelsdorff. »Sollten Königliche Hoheit diese Wendung mit Absicht wiederholen?«
»Mit Absicht?«
»Also nicht?… Denn der Prinz hat ja zwei Hände, nur daß die eine verkümmert ist und daß man, wenn man will, also sagen kann, es sei ein Prinz mit einer Hand.«
»Nun also?«
»Und daß man also fast wünschen müßte, nicht Eurer Königlichen Hoheit zweiter Sohn, sondern der unter der Krone geborene möchte der Träger dieser kleinen Mißgestaltung sein.«
»Was sagen Sie da?«
»Nun, Königliche Hoheit werden mich auslachen; aber ich denke an die Zigeunerin.«
»Die Zigeunerin? Ich bin geduldig, lieber Baron!«
»An die Zigeunerin – Verzeihung! – die das Erscheinen eines Fürsten aus Eurer Königlichen Hoheit Haus – eines Fürsten ›mit einer Hand‹ – das ist die überlieferte Wendung – vor hundert Jahren geweissagt und an das Erscheinen dieses Fürsten eine gewisse, sonderbar formulierte Verheißung geknüpft hat.«
Der Großherzog wandte sich im Fond und blickte stumm in Herrn von Knobelsdorffs Augen, an deren äußeren Winkeln die strahlenförmigen Fältchen spielten.
»Sehr unterhaltend!« sagte er dann und setzte sich wieder zurecht.
»Prophezeiungen«, fuhr Herr von Knobelsdorff fort, »pflegen sich in der Weise zu erfüllen, daß Umstände eintreten, die man, einigen guten Willen vorausgesetzt, in ihrem Sinne deuten kann. Und gerade durch die großzügige Fassung jeder rechten Weissagung wird das sehr erleichtert. ›Mit einer Hand‹ – das ist guter Orakelstil. Die Wirklichkeit bringt einen mäßigen Fall von Atrophie. Aber damit, daß sie das tut, ist viel geschehen, denn wer hindert mich, wer hindert das Volk, die Andeutung für das Ganze zu nehmen und den bedingenden Teil der Weissagung für erfüllt zu erklären? Das Volk wird es tun, und zwar spätestens dann, wenn auch das Weitere, die eigentliche Verheißung, sich irgend bewahrheiten sollte, es wird reimen und deuten, wie es das immer getan hat, um erfüllt zu sehen, was geschrieben steht. Ich sehe nicht klar – der Prinz ist zweitgeboren, er wird nicht regieren, die Meinung des Schicksals ist dunkel. Aber der einhändige Prinz ist da – und so möge er uns denn geben, soviel er vermag.«
Der Großherzog schwieg, im Innern durchschauert von dynastischen Träumereien.
»Nun, Knobelsdorff, ich will Ihnen nicht böse sein. Sie wollen mich trösten, und Sie machen Ihre Sache nicht übel. Aber man nimmt uns in Anspruch …«
Die Luft schwang von entferntem, vielstimmigem Hochgeschrei. Grimmburger Publikum staute sich schwärzlich an der Station hinter dem Kordon. Amtliche Personen standen in Erwartung der Equipagen einzeln davor. Man bemerkte den Bürgermeister, wie er den Zylinder lüftete, sich mit dem bedruckten Schnupftuch die Stirn trocknete und einen Zettel vor die Augen führte, dessen Inhalt er memorierte. Johann Albrecht nahm die Miene an, mit der er die schlichte Ansprache entgegennehmen und kurz und gnädig beantworten würde: »Mein lieber Herr Bürgermeister …« Das Städtchen war beflaggt; seine Glocken läuteten.
Alle Glocken der Hauptstadt läuteten. Und abends war Freudenbeleuchtung dort, ohne besondere Aufforderung von seiten des Magistrats, aus freien Stücken – große Illumination in allen Bezirken der Stadt.
Das Land
Das Land maß achttausend Quadratkilometer und zählte eine Million Einwohner.
Ein schönes, stilles, unhastiges Land. Die Wipfel seiner Wälder rauschten verträumt; seine Äcker dehnten und breiteten sich, treu bestellt; sein Gewerbewesen war unentwickelt bis zur Dürftigkeit.
Es besaß Ziegeleien, es besaß ein wenig Salz- und Silberbergbau – das war fast alles. Man konnte allenfalls noch von einer Fremdenindustrie reden, aber sie schwunghaft zu nennen, wäre kühn gewesen. Die alkalischen Heilquellen, die in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt dem Boden entsprangen und den Mittelpunkt freundlicher Badeanlagen bildeten, machten die Residenz zum Kurort. Aber während das Bad um den Ausgang des Mittelalters von weither besucht gewesen war, hatte sich später sein Ruf verloren, war von den Namen anderer übertönt und in Vergessenheit gebracht worden. Die gehaltvollste seiner Quellen, Ditlindenquelle genannt, ungewöhnlich reich an Lithiumsalzen, hatte man erst kürzlich, unter der Regierung Johann Albrechts III., erschürft. Und da es an einem nachdrücklichen und hinlänglich marktschreierischen Betriebe fehlte, war es noch nicht gelungen, ihr Wasser in der Welt zu Ehren zu bringen. Man versandte hunderttausend Flaschen davon im Jahr – eher weniger als mehr. Und nicht viele Fremde reisten herbei, um es an Ort und Stelle zu trinken …
Alljährlich war im Landtage von »wenig« günstigen finanziellen Ergebnissen der Verkehrsanstalten die Rede, womit ein durchaus und vollständig ungünstiges Ergebnis bezeichnet und festgestellt werden sollte, daß die Lokalbahnen sich nicht rentierten und die Eisenbahnen nichts abwarfen – betrübende, aber unabänderliche und eingewurzelte Tatsachen, die der Verkehrsminister in lichtvollen, aber immer wiederkehrenden Ausführungen mit den friedlichen kommerziellen und gewerblichen Verhältnissen des Landes sowie mit der Unzulänglichkeit der heimischen Kohlenlager erklärte. Krittler fügten dem etwas von mangelhaft organisierter Verwaltung der staatlichen Verkehrsanstalten hinzu. Aber Widerspruchsgeist und Verneinung waren nicht stark im Landtage; eine schwerfällige und treuherzige Loyalität war unter den Volksvertretern die vorherrschende Stimmung.
Die Eisenbahnrente stand also unter den Staatseinkünften privatwirtschaftlicher Natur keineswegs an erster Stelle; an erster Stelle stand in diesem Wald- und Ackerlande seit alters die Forstrente. Daß auch sie gesunken, in einem erschreckenden Maße zurückgegangen war, das zu rechtfertigen hatte größere Schwierigkeiten, wiewohl nur zu ausreichende Gründe dafür vorhanden waren.
Das Volk liebte seinen Wald. Es war ein blonder und gedrungener Typ mit blauen, grübelnden Augen und breiten, ein wenig zu hoch sitzenden Backenknochen, ein Menschenschlag, sinnig und bieder, gesund und