Möglichkeiten. Lisa Dickey

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Möglichkeiten - Lisa Dickey

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von frühester Kindheit an verfügte ich über die Fähigkeit – eigentlich ist es sogar eine Art Zwang –, mich in meiner jeweiligen Tätigkeit komplett zu verlieren. Ich war von mechanischen Objekten regelrecht besessen und verbrachte Stunden damit, Uhren bzw. Armbanduhren auseinanderzunehmen, um mir ihr Innenleben anzuschauen. Mich überkam ein regelrechter Drang, die Mechanik eines Gegenstands zu verstehen, und wenn ich es nicht kapierte, schirmte ich mich mental ab und fokussierte mich obsessiv auf die Lösung. Zuerst inspizierte ich alle nur erdenklichen Gerätschaften, die ich im Haus fand. Nachdem mir meine Eltern das Klavier geschenkt hatten, lenkte ich mein obsessives Fokussieren dann auf das Erlernen des Instruments.

      Als das Klavier in unserer Wohnung stand, wollte ich nur noch spielen. Mein Bruder und ich nahmen Stunden bei derselben Lehrerin, einer gewissen Mrs. Jordan, die etwa ein Dutzend schwarzer Schüler unterrichtete. Wir erlernten die Klassik, was auf alle anderen schwarzen Kids zur damaligen Zeit auch zutraf, denn es gab keinen Unterricht in Blues, R&B oder vergleichbaren Stilen. Das Erlernen des Klavierspiels bedeutete das Studium klassischer Musik, was Mom natürlich nur recht war.

      Bei Mrs. Jordan standen Klavierkonzerte und Wettbewerbe auf dem Lehrplan, und es dauert nicht lange, bis ich mich für die Laufbahn eines Konzertpianisten entschied. Von dem Punkt an füllte die Musik mein ganzes Leben aus. Ich verbrachte jeden freien Augenblick am Klavier, nahm mir Akkorde und Melodien vor, lernte das Notenlesen und machte Fingerübungen. Egal, wie viel ich auch lernte – es gab noch mehr zu lernen, was ich liebte und immer noch liebe.

      Natürlich gefiel mir das Klavierspiel auch und reizte mich, denn im Gegensatz zum Sport war ich darin gut. Als kleiner Junge mit einer schlechten Koordination war ich beim Sport immer unterlegen, doch nun hatte ich eine Aktivität gefunden, bei der ich genauso gut sein konnte wie mein Bruder und seine Freunde. Wayman erwies sich als großartiger Pianist, doch er hatte nicht meine obsessive Konzentrationsfähigkeit, und schon nach kurzer Zeit spielte ich besser als er. Als das Klavier erst einmal in unserer Wohnung stand, habe ich nie mehr mit Wayman und seinen Freunden Sport getrieben.

      In unserem Viertel fand man es übrigens cool, Klavier zu spielen! Da ich so klein war, wurde ich von anderen Kindern manchmal herumgeschubst. Das geschah einmal direkt vor dem Big House, wo einige Kids mich niederrissen und auf mich drauf sprangen. Doch als es erst mal die Runde gemacht hatte, dass ich Klavier spielte, fand ich mich in einer höheren Liga wieder. Musik zu machen, veränderte alles in meinem Leben. Ich hatte ein Ziel und das Bestreben, es zu erreichen. Die anderen sahen mich plötzlich in einem anderen Licht, doch am wichtigsten war meine neue Selbstwahrnehmung.

      Im Alter von elf Jahren meldete mich Mrs. Jordan beim jährlich stattfindenden Wettbewerb des Chicago Symphony Orchestra an. Als Teil der Jugendförderung lud das CSO Schüler ein, um einen Satz aus einem Konzert vorzuspielen. Dem Gewinner wurde die Ehre zuteil, das Stück live mit dem CSO aufzuführen.

      Damals hatte ich schon vier Jahre Unterricht genommen und meine Zeit fast ausschließlich mit Klavierspiel verbracht. Ich übte ein Jahr lang beinahe täglich Mozarts 18. Klavierkonzert in B-Dur, KV 456, und war mehr als bereit zum Vorspielen. Man hielt den Wettbewerb in der Orchestra Hall ab, heute bekannt als das Symphony Center. Von jedem Schüler wurde ein Soloauftritt erwartet, in Gegenwart des zweiten Dirigenten George Schick.

      Ich betrat die Bühne, setzte mich ans Piano und schaute auf die Zuschauerreihen hinunter. Dort saß Mrs. Jordan, und ich bemerkte auch zwei andere Ladys, die hereinkamen und neben ihr Platz nahmen. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Klavier, und von dem Moment an, in dem ich die ersten Töne anschlug, schien die Welt um mich herum nicht mehr zu existieren. Ich spielte den ersten Satz, und erst, nachdem die letzten Töne verklungen waren, schaute ich auf.

      Tja, das war sehr gut, dachte ich. Als ich die Bühne verließ, ging ich zu Mrs. Jordan, die mich drückte und mir versicherte, dass ich gut gespielt habe. Sie verriet mir, dass die beiden Frauen auch Klavierlehrerinnen seien und dass beide nach Ende des Vorspielens geweint hätten. Für einen Elfjährigen kam so ein Urteil einem Rausch gleich.

      Wenige Monate darauf fand ich in der Post eine Karte mit der Aufschrift „Herzlichen Glückwunsch“. Ich hatte den Wettbewerb gewonnen und erhielt somit die Einladung, am 5. Februar 1952 mit dem Chicago Symphony Orchestra aufzutreten. Unglücklicherweise stand auf der Postkarte, dass das CSO sich nicht in der Lage sehe, für das von mir vorgetragene Konzert die Orchester-Partituren zu besorgen. Somit musste ich ein neues Stück erlernen oder diese großartige Chance verstreichen lassen.

      Ich starrte schockiert auf die Postkarte. Wie konnte das nur sein? Während eines ganzen Jahres hatte ich das Konzert in- und auswendig gelernt, und nun standen mir nur wenige Monate zur Verfügung, ein brandneues einzuüben. Und hier ging es nicht um einen simplen Vortrag, es handelte sich um mein Bühnendebüt mit dem Chicago Symphony Orchestra. Ich wollte mir die Chance auf gar keinen Fall entgehen lassen – auf gar keinen Fall! Und so wählten wir ein neues Konzert aus – das 26. Klavierkonzert in D-Dur, KV 537 –, und ich begann, fieberhaft zu üben. Ich spielte das Stück Stunde um Stunde, und als der Konzerttermin immer näher rückte, konnte ich es gut, wenn auch nicht so gut wie Nummer 18.

      Schließlich war der große Abend gekommen. Ich stand nicht an erster Stelle des Programms, weshalb ich nervös an der Bühnenseite verharrte, während das Orchester sein erstes Stück aufführte. Neben dem Podium des Dirigenten befand sich ein Fahrstuhlschacht. Kurz vor dem Auftritt wurde damit ein Konzertflügel hochbefördert und in Position gebracht. Ich holte tief Luft, ging auf die Bühne und nahm vor dem großen Instrument Platz.

      Ich muss beim Rausgehen wohl recht niedlich gewirkt haben, denn mit elf war ich noch sehr klein und schmächtig. Nur mit Müh und Not ließen sich die Pedale des Flügels erreichen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was ich trug, glaube aber, es waren ein Jackett, kurze Hosen und Kniestrümpfe. Doch in dem Moment, als ich mit dem Stück begann – das ähnelte dem Vorspiel –, verschwand die Welt um mich herum. Nur noch ich und die Musik existierten.

      Am Ende des Konzerts explodierte das Publikum förmlich mit einem lauten Applaus, und einige Leute baten mich sogar um ein Autogramm. Ich schrieb eines für ein Mädchen meines Alters, sorgfältig darauf achtend, „Herbert Hancock“ in einem geschwungenen Zug aufs Papier zu setzen. Stolz erfüllte mich und zugleich Erleichterung, das neue Konzert in so kurzer Zeit gelernt zu haben.

      Ein oder zwei Wochen später erhielt ich von Mrs. Jordan eine Einladung zu einem Konzert der britischen Pianistin Dame Myra Hess in der Chicago Symphony als eine Art Geschenk zu meinem Erfolg. Als wir das Programmheft sahen, erstarrten wir beinahe von Verblüffung: Mozarts 18. Klavierkonzert in B-Dur, KV 456! Irgendwie war es ihnen gelungen, die Noten für das Orchester aufzutreiben. Vielleicht waren sie aber auch nie verschwunden gewesen? Es wäre leichtgefallen, misstrauisch zu sein, die Frage aufkommen zu lassen, ob das CSO einen kleinen afroamerikanischen Jungen habe entmutigen wollen, der jeden erstaunt und den prestigeträchtigen Wettbewerb gewonnen hatte. Für einen Schwarzen, der in den USA der Vierziger und Fünfziger aufwuchs, gehörten die rassistischen Seitenhiebe zu einem Teil des Lebens. Doch schon mit elf Jahren tendierte ich dazu, mögliche Anzeichen von Rassismus zu ignorieren, statt ihnen Gewicht einzuräumen. Das lag einfach in meiner Natur.

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      In der Highschool sah ich zum ersten Mal einen weißen Schüler. Während der Zeit in der Grundschule in Forestville waren alle schwarz gewesen, bis auf die Ausnahme einiger Lehrer. In meinem Viertel lebten keine weißen Familien, und da ich im Grunde genommen nirgendwo hinging, traf ich auch nie Andersfarbige. In unserem Teil von Chicago waren die einzigen Weißen, denen man begegnete, Menschen, die Geld von einem haben wollten – der Mann von der Versicherung oder der Vermieter.

      Nur durch die Geschichten und Erzählungen meines Vaters erfuhr ich etwas über die weißen Kids. Er hatte die ersten

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