Möglichkeiten. Lisa Dickey

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Möglichkeiten - Lisa Dickey

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Mama“, entgegnete ich. „Du verstehst mich nicht. Wir brauchen ganz dringend George Shearing-Platten. Nicht irgendwelche Platten.“

      „Herbie“, antwortete sie belehrend, „kannst du dich an letztes Jahr erinnern, als ich dir einige Platten mit nach Hause brachte? Du warst sauer auf mich, weil du andere wolltest, hast gesagt, es seien die falschen. Das waren Platten von George Shearing! Geh, schau mal in den Schrank.“

      Ich ging durch das Wohnzimmer zum mit 78ern gefüllten Schrank, und da standen sie: Alben von George Shearing und seinem Quintett. Ich hatte sie mir niemals angehört, immer den Jazz als die Musik der Älteren empfunden, als etwas, das irrelevant für mich war. Aber nun – dank des Erlebnisses, einen Gleichaltrigen beim Improvisieren gesehen zu haben – fand ich die Musik aufregend und wollte sie selbst machen.

      Ich ließ die 78er aus der Hülle in meine Hand gleiten und legte sie auf den Plattenteller. Dons Trio hatte drei Songs des George Shearing Quintett aufgeführt: „Lullaby Of Birdland“, „I’ll Remember April“ und „A Nightingale Sang In Berkeley Square“. Ich setzte die Nadel bei „I Remember April“ auf und erkannte, während ich mir das Stück anhörte, dass es stark nach Don klang! Das verriet mir alles – wenn Don das spielen konnte, warum sollte ich es nicht können? An dem Nachmittag versuchte ich, es zu erlernen.

      Die ersten Ansätze waren schrecklich. Ich klang so, wie ich immer spielte, wie ein Klassiker, der das Improvisieren zu erlernen versucht. Doch dann kam mir die Liebe zur Mechanik und den Wissenschaften in den Sinn, und ich entschied mich, die Improvisation auf demselben Weg zu erkunden, wie ich eine Uhr auseinandernahm: analytisch. Ich suchte mir eine Phrase aus, die mir gefiel, und hörte die Töne heraus, indem ich sie mir wieder und wieder anhörte – auch wenn ich nur eine Einzelton-Improvisation mit der rechten Hand fand. Danach versuchte ich, über die Melodie hinaus die improvisierten Abschnitte zu hören, um die einzelnen Töne einzugrenzen, die ich für mein Spiel benötigte.

      Waren die richtigen Noten erst mal gefunden, spielte ich zu der Aufnahme. Doch am Anfang hatte ich den Eindruck, als gelänge es mir nicht, den einzelnen Tönen den gleichen Charakter zu verleihen, woraufhin ich zur nächsten Phrase überging und danach längere und längere Phrasen lernte, bis ich sie endlich im Einklang mit dem spielen konnte, was ich auf der Platte hörte.

      Ich arbeitete weiter, fand neue Phrasen, die ich mochte, und transkribierte sie auf Notenpapier. Damals wusste ich es noch nicht, aber ich absolvierte im Grunde genommen ein Hörtraining, da ich zeitgleich zum Lernen der Abschnitte mein Gespür für die relative Tonhöhe verfeinerte. Ich verbrachte damit dann täglich Stunden, ließ George Shearing hinter mir und beschäftigte mich bald mit anderen Pianisten wie Erroll Garner und Oscar Peterson. Je mehr ich lernte, desto mehr wollte ich lernen!

      Aufgrund meiner individuellen Auffassungsgabe erkannte ich Muster schnell. Ich spielte eine Tonfolge, schrieb sie auf und dachte: Warte mal – er hat die Noten doch schon bei einer früheren Phrase des Songs benutzt. Ich wusste nichts über den Aufbau des Jazz, und somit musste ich es mir beim Üben selbst zurechtlegen. Auf mich wirkte die Improvisation wie ein sich dahinziehender Bewusstseinsstrom, was jedoch nicht der Realität entsprach, da sie in einem bestimmten Ausmaß organisiert war.

      Trotz der Tatsache, dass ich Klassik gut spielte, war mein Wissen hinsichtlich anderer musikalischer Formen recht begrenzt. Ich kannte zwar Dur- und Mollakkorde, doch musste mir alles andere selbst beibringen, weshalb ich viel Zeit damit verbrachte, mich in der Schule mit anderen Kids zu unterhalten, die auf den Stil abfuhren, darunter Don Goldberg und Ted Harley, der Waldhorn spielte. Die beiden waren gute Musiker. Don wurde später professioneller Komponist und Arrangeur, änderte seinen Namen in Don James und arbeitete bei großen Shows wie der Eiskunstlaufrevue „Ice Capades“ und Baryshnikov On Broadway. Die Gespräche mit Don und Ted halfen mir dabei, mehr über die Theorie und die Struktur der Improvisation zu erfahren.

      Werde ich gefragt, wie man das Improvisieren lernt, gebe ich immer denselben Ratschlag, den Don mir damals gab: Finde einen Musiker, den du magst, und kopiere dann seinen oder ihren Stil. Dieser analytische, beinahe mechanische Ansatz wird dir das Erlernen der Grundlagen ermöglichen. Doch nachher besteht die große Kunst darin, nicht im Kopieren stecken zu bleiben, sondern einen eigenen Weg zu finden. Man muss damit beginnen, eigene Melodielinien zu kreieren, die eigene Stimme auszubilden.

      Wenn du dir eine bestimmte musikalische Form vornimmst – sagen wir mal einen 32-Takter –, spielst du zuerst die Melodie, quasi den Überbau, und danach improvisiert man zu der speziellen Akkordstruktur. Innerhalb der Struktur besteht viel Freiheit – der Raum, der Rhythmus, die Akkorde sowie die Schattierungen. Egal, was du spielst, was Moment für Moment aus dir herauskommt: Es ist ein Ausdruck, geprägt von einer Kombination verschiedenster Elemente, die auch – falls du mit einer Band Musik machst – die Beiträge der anderen Musiker beinhalten. Da so viel geschieht, muss man höchst präsent sein, und da alles so schnell geschieht, darf man sich nicht durch theoretische Überlegungen bremsen lassen.

      Die Improvisation – das Sein im Augenblick – ist eine Art Erkundung des Unbekannten. Sie bedeutet, einen dunklen Raum zu betreten, in dem man nichts erkennt. Es bedeutet, mit dem Erinnerungsvermögen zu arbeiten, bildlich gesprochen einer Art Muskelgedächtnis, und zugleich dem Bauchgefühl freien Lauf zu lassen im Gegensatz zum bewussten Spiel. Damit setze ich mich auch heute noch auseinander: zu lernen, mir selbst aus dem Weg zu gehen! Es ist sicherlich nicht einfach, doch wenn es gelingt, erscheinen diese Augenblicke wie die reinste Magie. Die Improvisation gleicht dem Öffnen einer Schatztruhe, in der alles daraus Entnommene neu ist. Man langweilt sich nie, denn der Inhalt der Truhe variiert jedes Mal.

      Jazz ist keine vollkommen zu beherrschende Musik, da der Stil vom Moment abhängt. Jeder Moment ist einzigartig und verlangt vom Musiker, dass er sein tiefstes Inneres ausschöpft. Die klassische Musik erschien mir hochgeistig, wohingegen der Jazz das Geistige und Intuitive vereint. Jazz zog mich wie ein Magnet an, und ich konnte es kaum erwarten, mehr zu lernen.

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      Im Herbst 1956 setzte ich meine Laufbahn auf dem Grinnell College fort. Die Grinnell war eine kleine, hauptsächlich geisteswissenschaftlich geprägte Hochschule in Iowa, was für mich keine naheliegende Wahl bedeutete. Doch eine der engsten Freundinnen meiner Eltern, Mrs. Smith, die auch in der South Side lebte, hatte sie besucht, und so entschied ich mich zur Immatrikulation. Ich gewann ein Pullman-Stipendium und machte mich im Alter von sechzehn Jahren nach Iowa auf. Dort fand ich einen angenehmen und warmherzig anmutenden Campus mit Studenten aus aller Welt vor. Der Besuch der Hyde Park High School hatte meine Augen geöffnet und mich mit Menschen aus den verschiedensten Bereichen in Kontakt gebracht. Die Grinnell aber sollte meinen Horizont noch einmal immens erweitern.

      Noch bevor ich auch nur einen Fuß auf den Campus setzte, beschäftigte ich mich analytisch mit meinen Optionen. Sollte ich Musik als Hauptfach studieren? Oder eine Wissenschaft? Ich liebte beides, doch wollte ich eine kluge Entscheidung treffen. Und so fragte ich mich: Wie gut stehen die Chancen, mit Jazz den Lebensunterhalt zu bestreiten? Bedenklich. Und wie stehen die Chancen, mit einem wissenschaftlichen Studiengang das Auskommen zu sichern? Wahrscheinlich sehr gut. So sehr ich Jazz auch liebte, entschied ich mich also für den pragmatischen Weg und somit für das Hauptfach Ingenieurswissenschaften/Elektrotechnik. Ich versprach sogar meiner Mutter, die sich einen „handfesten“ Studienabschluss wünschte, dass ich vom Musikstudium absähe.

      Im ersten Jahr trug ich mich nicht für Musikseminare ein, doch nahm Klavierunterricht und verbrachte Stunden mit dem Studium des Jazz. Meine Noten waren eher durchschnittlich, da ich mich im Fach Elektrotechnik nie großartig bemühte. Zwar traf man auf dem College kaum Jazz-Musiker, doch mir begegneten einige außergewöhnlich gute Instrumentalisten, mit denen ich die Zeit beim Spielen und mit Gesprächen verbrachte. Das waren der dänische Drummer Bjarne

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