Möglichkeiten. Lisa Dickey
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Ich verhielt mich dementsprechend. Von zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Uhr las ich in Büchern, hing in meinem Zimmer ab, und nach Mitternacht war alles überstanden. Ich fühlte mich nicht mehr wie ein Opfer, sondern war stattdessen stolz auf mich. Ich hatte die Kontrolle über meine Emotionen erlangt und einen Weg gefunden, den Ärger zu umgehen. Von dem Zeitpunkt an gab es keine Möglichkeit mehr, mich zu bestrafen, da mir klargeworden war, dass ich allein die Verantwortung für die Reaktion auf eine gegebene Situation trug.
Das stellte eine großartige Entwicklung dar. Ich würde mich niemals mehr von externen Faktoren zum Opfer machen lassen, da mir die Kontrolle oblag, in welchem Umfang sie mich emotional beeinflussten. In vielerlei Hinsicht war das eine nützliche und hilfreiche Charakterentwicklung, die ich aber im Laufe der Zeit bis zum Extrem ausreizte und mich somit desensibilisierte. Ich bin niemals ein besonders gefühlsbetontes Kind gewesen, doch von der Highschool an hielt ich meine Emotionen im Zaum. Ich weinte fast nie, egal, wie traurig oder aufgewühlt ich mich fühlte. Wenn mich etwas zu stark negativ berührte, machte ich eher „zu“, als die unangenehmen Gefühle wahrzunehmen.
Doch es gab eine schreckliche Ausnahme. Es geschah zu Beginn meines letzten Highschool-Jahres – der Mord an Emmett Till.
Emmett Till war vierzehn, nur ein Jahr jünger als ich, und stammte auch aus der South Side von Chicago. Im August 1955 reiste er nach Mississippi, um Verwandte zu besuchen. Seine Mutter hatte ihn vor der Abreise vor den krassen Diskrepanzen zwischen dem Norden und dem Süden der USA gewarnt, ihn darauf hingewiesen, sich angemessen zu verhalten. Doch als Till und einige Freunde in ein Geschäft gingen, um Süßigkeiten zu kaufen, forderte ihn einer der anderen Jungs heraus, die einundzwanzigjährige weiße Verkäufern Carolyn Bryant anzusprechen. Offensichtlich pfiff er ihr nach und gab damit vor den Freunden an. Als Bryant ihrem Mann Roy davon erzählte, entschied der sich für Vergeltung.
Wenige Tage später kidnappten Roy Bryant und einige andere Männer Till und verprügelten ihn mit dem Knauf einer Pistole. Dann legten sie den blutenden Jungen auf die Ladefläche eines Pick-ups, warfen eine Abdeckplane über ihn und fuhren zu einer Entkörnungsmaschine, wo sie einen ungefähr 35 Kilogramm schweren Ventilator abmontierten. Die Fahrt endete an den Ufern des Tallahatchie River, wo man Till in den Kopf schoss, den Ventilator als Gewicht an seinem Hals befestigte und ihn dann ins Wasser warf.
Drei Tage danach fanden im Fluss fischende Kinder den Leichnam Tills. Seine trauernde Mutter bestand darauf, dass man den Körper ihres Sohnes in einem Piniensarg aufbahrte und mit dem Zug nach Chicago überführte, statt ihn in Mississippi zu beerdigen. Der Sarg erreichte A. A. Rayners Bestattungsunternehmen Anfang September. Als Tills Mutter das schrecklich entstellte Gesicht ihres Sohns erblickte, entschied sie sich, bei der Beerdigung den Sarg offen zu lassen, damit die ganze Welt sehen konnte, was diese Männer in Mississippi Till angetan hatten.
Zufälligerweise fuhren wir exakt an dem Tag der Ankunft von Tills sterblichen Überresten an Rayners Bestattungsunternehmen vorbei, das nicht weit entfernt von unserem Apartment in der South lag. Ich beobachtete weinende Menschen, die aus der Tür herausstolperten, und sah schockiert, wie ein tränenüberströmter und verzweifelt um Worte ringender Mann auf die Straße trat und mit in den Himmel gestreckten Händen hilflos gestikulierte. Niemals zuvor hatte ich Menschen so außer sich gesehen, und das verängstigte mich zutiefst.
Das Jet-Magazin publizierte eine Nahaufnahme von Tills verschwollenem und verunstaltetem Antlitz. Obwohl meine Eltern versuchten, uns davon abzuschirmen, überkam mich die Neugier. Als ich das Magazin nahm, zum Foto blätterte und es sah, überwältigten mich panische Angst und Entsetzen. Egal, wie sehr ich auch geglaubt hatte, meine Gefühle zu kontrollieren – nichts hätte mich darauf vorbereiten können, das grausam entstellte Gesicht eines Jungen meines Alters zu sehen, aus meiner Nachbarschaft, den man für eine Lappalie brutal ermordet hatte. Wochen danach noch plagten mich Albträume.
Die Radiosendung des WGES-DJs Al Benson stellte meinen erstmaligen Kontakt zum Jazz her. Bekannt als der „Godfather of Chicago Black Radio“ legte Benson den ganzen Tag Platten auf, meist Blues oder R&B, gewürzt mit einer gelegentlichen Jazz-Nummer. „Moonlight In Vermont“ – gespielt von dem Gitarristen Johnny Smith, mit Stan Getz am Tenorsax – war die erste Jazz-Performance, die ich bewusst wahrnahm. Es war eine Ballade, einfach ein schöner Song, den ich mochte, aber sicherlich keine Offenbarung des Jazz. Zum Erscheinungstermin im Jahr 1952 hörte ich wie auch die anderen Kids in der Nachbarschaft überwiegend R&B.
Meistens standen wir an Straßenecken, sangen und imitierten unsere Lieblingsgruppen – die Orioles, die Midnighters, die Five Thrills und die Ravens. Später hörte ich die Four Freshmen, ein Gesangsquartett, das Mitte der Fünfziger mit Songs wie „Mood Indigo“ und „Day By Day“ berühmt wurde.
Die Four Freshmen sangen Harmonien, die weit entfernt von den sogenannten Vier-Part-Barbershop-Tonschichtungen entfernt lagen, die in den Dreißigern populär gewesen waren. Sie sangen eher jazzige Harmonien mit großen Septimen und sogar einigen Nonen-Akkorden, die mich faszinierten und dazu brachten, selbst den Gesang zu erlernen. Ich liebte auch die Hi-Lo’s, eine weitere Vokalgruppe, deren Pianist Clare Fisher viele ihrer Songs arrangierte. Fishers Arrangements übten einen unglaublichen Einfluss auf mein Verständnis harmonischer Zusammenhänge aus.
Ich liebte die Art des Gesangs so sehr, dass ich in der Hyde Park meine eigene Gesangsgruppe gründete. Obwohl mich R&B und benachbarte musikalische Genres interessierten, kam es mir nie in den Sinn, etwas anderes als klassische Musik auf dem Klavier zu spielen.
Meist spielte ich bei den Proben des Highschool-Orchesters, um die Geiger und andere Instrumentalisten zu unterstützen, die mühselig ihre Stimmen lernten. Allerdings trat das Orchester nie mit einem Pianisten auf, weshalb ich bei Konzerten Becken und generell Percussion übernahm. Die Hyde Park hatte auch eine Tanzband, deren Pianist Don Goldberg hieß. Er war zwar in meiner Stufe, doch ich hatte ihn damals noch nicht kennengelernt. Don spielte in einem Schüler-Jazz-Trio. Als ich sie schließlich an einem Nachmittag in meinem zweiten Jahr sah, machte er etwas, das mein Leben radikal veränderte: Jedes Semester führte die älteste Stufe eine Varieté-Show für alle Klassen auf. Dons Trio – Klavier, Kontrabass und Drums – ging auf die Bühne, und als sie zu spielen begannen, beobachtete ich natürlich sein Spiel. Sein Auftritt haute mich förmlich um, denn er improvisierte! Ich hatte keine Ahnung, dass das Jungs in unserem Alter konnten, denn ich dachte immer, dass nur ältere Musiker improvisierten. Bitte denken Sie daran – „älter“ bedeutete für mich: mit vierzehn, neunzehn oder zwanzig Jahren.
Seit dem Alter von sieben Jahren hatte ich Klassik gespielt und war somit ziemlich gut im Notenlesen, doch Don konnte etwas auf meinem Instrument, das mir bisher vorenthalten war. Er selbst kreierte die Musik, exakt in dem Moment, und las sie nicht von einem Blatt Papier ab! Mein Herz begann wie verrückt zu rasen, und nachdem das Trio die drei Stücke beendet hatte, hetzte ich zur Garderobe, wo ich Don fand. Schnell stellte ich mich vor, und dann konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.
„Mann, wo hast du nur gelernt, so zu spielen? Ich habe überhaupt nicht verstanden, was du gemacht hast, stand aber total drauf. Ich will das auch lernen – lernen, wie man Jazz spielt.“
Don lachte und meinte: „Tja, wenn dir mein Spiel gefiel, solltest du dir als Erstes unbedingt eine Platte von George Shearing besorgen.“ Er riet mir, Shearings Stil anzuhören und danach die Parts zu imitieren, die ich mochte. So hatte er es gelernt und war im Alter von fünfzehn Jahren schon ziemlich gut in der Improvisation.
Als der Schulbus mich nachmittags absetzte, rannte ich nach Hause, raste durch die Wohnungstür und rief: „Mama! Wir müssen uns unbedingt Platten von George