Partyinsel Ibiza. Helen Donlon
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Wer sich für Ausgrabungen oder andere historische Stätten interessiert, wird überall auf Ibiza fündig; die meisten sind gut erhalten und am Straßenrand mit rosa Hinweistafeln ausgeschildert. Abgesehen von dem umfangreichen Museum hinter den mittelalterlichen Stadtmauern der Dalt Vila (der alten Oberstadt von Ibiza-Stadt, die 1999 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde) und den Gräbern von Puig des Molins gibt es die Überreste der phönizischen Siedlung in Sa Caleta, den Tanit-Tempel in der Cova d’es Culleram im Norden, Ses Païsses bei Cala d’Hort, Es Pouàs bei Santa Agnès und die Ruinen römischer Aquädukte von S’Argamassa an der Ostküste. Cova d’es Culleram, eine hoch am Berg gelegene Höhle, die vom nächstgelegenen Ort über einen steilen und gewundenen Weg zu erreichen ist, wird noch immer als Heiligtum geachtet und ist mit kleinen Geschenken und hoffnungsvollen Botschaften an die Göttin übersät.
217 v. Chr. hielt der römische General Scipio Kurs auf Ibiza. Er konnte die Insel zwar nicht dauerhaft unter seine Kontrolle bringen, plünderte sie aber gründlich. Nach der Zerstörung Karthagos 146 v. Chr. geriet die Insel unter die Herrschaft beider Mächte, und die nächsten zweihundert Jahre entwickelte Ibiza eine römisch-karthagische Identität. Die Münzen zeigten nun auf einer Seite römische Figuren, auf der anderen aber nach wie vor die karthagischen Götter Bes und Eschmun. Die Römer, die auf Ibiza Sklavenarbeit einführten und auch erste Olivenpressen, Fischzuchtanlagen und Mühlen betrieben, akzeptierten Bes nach einer Weile, und es entstanden verschiedene Talismane mit seinem Bild.
Dennoch verschwanden allmählich alle Spuren der Karthager: aus dem phönizischen Ybšm wurde das römische Ebusus, und der Eschmun-Tempel in Dalt Vila war dem Merkur geweiht, dem großen Gott des Handels. Es war der erste Tempel des Mammons auf Ibiza. Und wie aufs Stichwort entwickelten sich die Dinge zum Schlechteren, denn prompt verlegten die Römer ihre Industrien nach Nordafrika und nahmen ihre Sklaven mit, während sich auf Ibiza in den nächsten fünfhundert Jahren wenig neue Entwicklungen abspielten, bis 455 n. Chr. die Vandalen auf der Insel einfielen und achtzig Jahre lang dort blieben. Sie waren Christen, und so kam es zu vielen religiös motivierten Auseinandersetzungen, bis die katholischen Byzantiner 533 Karthago eroberten und schließlich, zwei Jahre später, auch die Balearen unter ihre Kontrolle brachten.
Andere Völker, die kamen, sahen, eroberten, liebten, hassten und tanzten waren die Mauren, die Katalanen und große Trupps nordafrikanischer Piraten. Ohnehin fielen häufig Piraten über die Insel her; gewissermaßen tun sie es immer noch, nur in modernem Gewand. Unter der ruhigen Herrschaft der Mauren, die Ibiza im 10. Jahrhundert übernahmen, belebte sich das Inselleben wieder. Die Mauren brachten der Insel die arabische Sprache und den Islam und nannten sie Yebisah.
Höchstwahrscheinlich entstammt der größte Einfluss auf die ibizenkische Musik der nordafrikanischen, arabischen Tradition. Sie ist geprägt durch eindringlichen Gesang und alles andere als fröhlich, und auch nach vielen hundert Jahren Christentum und einer Vielzahl anderer äußerer Einflüsse kann man bei Dorffesten auf dem Land immer noch traditionelle Auftritte erleben, bei denen diese Musik gespielt wird. Oft ist es eine Sängerin, die dem Publikum den Rücken zudreht, während sie eine tragische Geschichte intoniert. Männer begleiten sie auf Holzbläsern und Rhythmusinstrumenten, auf Flöten, Trommeln oder Kastagnetten. Die traditionellen Kostüme sind kompliziert geschneiderte, herrliche Stücke, deren Schnittmuster, wie ein Geheimnis gehütet, immer noch von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
Und hier kommt der alte phönizische Gott Bes wieder ins Spiel. Er gleicht in vieler Hinsicht verblüffend dem griechischen Ziegengott Pan oder seinem nordafrikanischen Äquivalent, dem marokkanischen Boujeloud, und wurde von Historikern sogar mit dem Satan aus der christlichen Religion in Verbindung gebracht. Auch heute noch finden in dem kleinen Ort Joujouka im südlichen Rif-Gebirge Marokkos einmal im Jahr Sufi-Trance-Rituale statt, die den römischen Lupercalien oder Pan-Ritualen gleichen. Jahrhundertelang wurden diese Traditionen nicht weiter beachtet, bis der britische Künstler und Schriftsteller Brion Gysin, der zeitweise in Marokko lebte, sie der westlichen Welt wieder in Erinnerung rief. Bei diesen Feierlichkeiten kommen die Dorfbewohner zusammen, um in komplizierten Trance-Ritualen den an Pan oder Bes gemahnenden Boujeloud heraufzubeschwören. Begleitet werden sie dabei von den Master Musicians Of Joujouka, einer den Berbern zuzurechnenden Gruppe von Trance-Musikern, die einer Sufi-Bruderschaft angehören. Obgleich sie uralte Rhythmen spielen, haben sie inzwischen vielfach mit neuzeitlichen, westlichen Musikern wie Brian Jones von den Rolling Stones, dem Free-Jazz-Komponisten Ornette Coleman und dem Sänger Robert Plant zusammengearbeitet.
Der Legende zufolge hatte Boujeloud einem jungen Schafhirten namens Attar einen faustischen Pakt angeboten. Er wollte ihm die Geheimnisse der Musik verraten, wenn Attar ihm versprach, sie geheim zu halten. Attar hielt sich jedoch nicht an sein Gelübde, und so holte sich Boujeloud seine Rache und kam in Attars Dorf, um sich unter den dortigen Frauen eine Braut zu suchen. Die Dorfbewohner boten ihm daraufhin Aisha Qandisha an – eine Göttin, die Astarte und in gewisser Hinsicht auch Tanit ähnelt. Sie ließ ihn bis zur Erschöpfung tanzen, trieb ihn in den Wahnsinn und damit auch hinaus aus dem Dorf. Die Bewohner fuhren anschließend eine reiche Ernte ein. Diese alte Geschichte wird jedes Jahr nachgespielt mit einem ekstatischen Tanz, der Fruchtbarkeit symbolisiert und Segen für die kommende Ernte bringen soll. Als Soundtrack dient dafür noch immer die Klangalchemie der Musiker von Joujouka.
Der heute in den USA lebende britische Künstler Genesis P. Orridge bezeichnete die Joujouka-Musik als „so grundlegend und spiralförmig wie DNA“; sie sei das genetische Rohmaterial für jede Form von heiliger Musik. Timothy Leary sagte: „Dies ist eine religiöse Berauschtheit, die den vedischen soma-psychedelischen Gelehrten vorausgeht, zehntausend Generationen älter als Buddha und Christus. Das älteste Blutsamen-Ritual. Wilder, unaufhaltsamer Vereinigungstanz des Lebens, uralte, den Menschen vorausgehende Mutationszusammenkunft, Fruchtbarkeitsanbetung, Totemsquelle, beschämender Samen der Evolution.“ In den 1950er-Jahren spielten die Master Musicians vor internationalem Publikum in Brion Gysins Café 1001 Nights in der Internationalen Zone von Tanger, jenem Gebiet, das in William Burroughs’ Werken Interzone genannt wird.
„Wir brauchen allerorten mehr diabolische Musik“, erklärte Burroughs, nachdem er sie zum ersten Mal gehört hatte. Timothy Leary erklärte, die Master Musicians seien eine „viertausend Jahre alte Rockband“. Die wesentliche Eigenschaft solcher Zeremonien besteht in einer psychisch heilenden Trance. Diese Praxis, die auf Ibiza bis heute gepflegt wird, geht in letzter Konsequenz auf die Mauren zurück, wurde aber auch von den Freaks beeinflusst, die sich in den Sechzigern in Goa niedergelassen hatten, einer portugiesischen Fischerkolonie an der indischen Küste. Dort entstand im Laufe der nächsten drei Jahrzehnte eine moderne, psychedelische Trance-Party-Kultur. Beispiele dafür sind das sonntägliche tribal drumming bei Sonnenuntergang in Benirràs (übrigens ein arabischer Name, den die Mauren diesem Strand an der Westküste verliehen) und auch die Trance-Partys, die in entlegeneren Orten der Insel stattfinden. Für jene Nomaden, die zwischen Goa und Ibiza aufgewachsen sind und sich im Sommer immer wieder auf Ibiza einfinden, spielen die Flöten bei diesen Ritualen keine so große Rolle mehr wie bei den Mauren; die Trommeln haben sie als Grundlage abgelöst. In Benirràs kommen die Trommler aus allen Orten Ibizas zusammen und vereinigen ihre Rhythmen zu einer kumulativen Ekstase, wenn die Sonne untergeht. Auch ist es nicht ungewöhnlich, dass kleinere Gruppen von Trommlern in den Bars und den großen Clubs der Insel auftauchen. Allerdings sind die Trommler-Gemeinschaften in jüngster Zeit, etwa seit 2008, nicht mehr so allgegenwärtig: Die Zeiten haben sich geändert, und die Einflüsse der Hippies, die derartige alte Traditionen pflegten, spielen keine so große Rolle mehr und wurden stärker in den Untergrund gedrängt.
Die Mauren brachten die Landwirtschaft auf Ibiza