Jimi Hendrix. Charles R Cross
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In England war Jimi von rassistischer Diskriminierung verschont geblieben; er hatte festgestellt, dass Klasse und Akzent die entscheidenden Gradmesser der britischen Gesellschaft darstellten. In den Staaten hatte seine ethnische Zugehörigkeit seine Karriere behindert, besonders, weil er über die akzeptierten Grenzen des Rock und R & B hinausging. In England verliehen ihm seine Hautfarbe und sein amerikanischer Akzent jedoch eher etwas Exotisches. Als afroamerikanischer Yankee war er ein unverwechselbarer Außenseiter und wurde deshalb verehrt. „Er war der erste amerikanische Schwarze, den ich je kennen gelernt habe“, erinnert sich Noel Redding. „Das allein machte ihn schon interessant.“ Sting, der 1967 als Teenager die Tournee der Jimi Hendrix Experience erlebt hatte, schrieb später, er habe bei dem Konzert „zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen“.
Jimis zweiter Impuls an jenem Tag in dem Liverpooler Pub war, an seiner Aufmachung zu zweifeln. Er trug eine antike Militärjacke, ein Relikt aus den glorreichen Zeiten des britischen Empire. Er hatte die üppig verzierte Jacke auf einem Londoner Flohmarkt gekauft: Auf der Brust glänzten dreiundsechzig Goldknöpfe, raffinierte Goldstickereien schmückten Ärmel und Brust, und der Kragen hätte jeden Träger dandyhaft wirken lassen. „Wegen der Jacke hatte er schon mal Probleme gekriegt“, erinnert sich Kathy Etchingham, Jimis damalige Freundin. „Rentner haben gesehen, wie der wilde schwarze Mann in der Jacke die Straße entlanglief, und natürlich haben sie kapiert, dass der nicht bei den Husaren gewesen war.“ Englische Kriegsveteranen einer bestimmten Altersgruppe zögerten nicht, Jimi ihr Missfallen kundzutun, und da sie Top of the Pops nicht gesehen hatten, wussten sie auch nicht, dass sie einen Rockstar vor sich hatten. Sämtliche durch die Jacke verursachte Konflikte ließen sich jedoch in der Regel rasch lösen, wenn sich der stets sehr höfliche Jimi entschuldigte und erwähnte, er sei Soldat der One Hundred and First Airborne Division der Armee der Vereinigten Staaten gewesen. Das genügte meist, damit die alten Kameraden verstummten und ihm einen dankbaren Klaps auf die Schulter gaben. 1967 erinnerten sich in Großbritannien noch viele an die legendäre One Hundred and First, die am D-Day unerschrocken und heldenhaft mit Fallschirmen über der Normandie abgesprungen war.
Hendrix allerdings wirkte in seiner Jacke tatsächlich wie ein Held. Er war nur eins siebenundsiebzig groß, wurde aber meist für mindestens eins achtzig gehalten, da ihn sein gigantischer Afro übermenschlich groß erscheinen ließ. Seine schmale, kantige Statur, die wie ein umgekehrtes Dreieck geformt war, verstärkte diese Illusion. Er hatte schmale Hüften, eine schlanke Taille, aber unglaublich breite Schultern und Arme. Seine Finger waren ungewöhnlich lang und sehnig und hatten, wie auch sein gesamter Körper, eine satte karamellfarbene Tönung. Seine Bandkollegen nannten ihn wegen seiner Angewohnheit, die Fenster zu verhängen und tagsüber zu schlafen, scherzhaft „die Fledermaus“, aber der Spitzname passte auch auf seine Vorliebe für Capes, die das Superheldenhafte seines Äußeren unterstrichen. „Wenn wir in London die Straße entlanggingen“, erinnert sich Kathy Etchingham, „sind die Leute manchmal einfach stehen geblieben und haben ihn angestarrt, als wäre er eine Art übernatürliche Erscheinung.“ Er hatte große, mandelförmige braune Augen, die im Licht funkelten. Jimi war sofort der Liebling der britischen Journalisten, doch besonders beteten ihn die Fotografen an, denn wie ein Fotomodell hatte er die Gabe, aus jedem Blickwinkel umwerfend auszusehen. Dazu kam die Sanftheit seines Gesichtsausdrucks, durch die jedes Bild eine Geschichte zu erzählen schien. Selbst in einem an sich so kühlen Medium wie einem Zeitungsfoto strahlte Jimi eine gefährliche und exotische Sexualität aus.
Doch die schillernde Schönheit bedeutete dem Liverpooler Barkeeper mit seinem eiskalten Blick nichts, und sie verhalf Jimi, trotz wiederholter höflicher Bitten und mehrere Pfundnoten auf dem Tresen, nicht zu einem Bier. Jimi mag erwogen haben, dem alten Herrn von seinem wachsenden Ruhm zu erzählen, doch seine Geduld schwand. Obwohl er für seine Ruhe und seine guten Manieren bekannt war, besaß Jimi auch ein feuriges Temperament, das gelegentlich durchbrach, besonders, wenn Alkohol im Spiel war – und dann gnade demjenigen, der im Weg stand. „Wenn er wütend wurde“, bemerkt Etchingham, „ging er hoch.“ In dem Pub jedoch hoffte er noch immer auf ein Getränk, was die Chancen senkte, dass er sich auf den alten Mann stürzen würde.
Schließlich stellte Jimi den Barmann leicht stotternd zur Rede – ein Sprachfehler, der noch aus seiner Kindheit stammte und in den er, wenn er nervös war, wieder verfiel. „Liegt es daran“, fragte er aufgebracht, „dass ich schwarz bin?“
Der Barkeeper antworte schnell und sicher. „Nein, um Gottes wil-len, Mann! Habt ihr das Schild an der Tür nicht gelesen?“ Und damit schnappte sich der alte Mann sein Küchenhandtuch und trottete verärgert ans andere Ende der Bar.
Da Rassismus schon mal ausgeschlossen werden konnte, machte sich erneut humorvolle und ungezwungene Stimmung bei Jimi und Noel breit. Sie grinsten sich gegenseitig an wie Schuljungen, die etwas ausgefressen haben und darauf warten, erwischt zu werden. „Wir fingen an zu lachen“, erinnert sich Noel. „Wir hatten keine Ahnung, was wir verbrochen hatten.“ Noel spottete, dass man in Liverpool vielleicht Mitglied der Treegulls sein musste – Noels Spitzname für die Beatles –, um etwas zu trinken zu bekommen. Noel ging hinaus, um an der Tür nachzusehen, und entdeckte dort zwei mit Reißnägeln angebrachte Aushänge. Oben hing ein großes Poster, das eine Zirkusvorstellung am anderen Ende der Straße ankündigte, und weiter unten ein handgeschriebenes Schild, das erklärte, weshalb man Jimi und Noel aus dem Pub gewiesen hatte. Als Noel das zweite Schild entdeckte, bekam er einen Lachkrampf, der ihn in die Knie zwang. Das war ein Jahrhundertbrüller, dachte Noel. Einer von der Sorte, über den sie noch monatelang im Bandbus lachen würden. „Ich dachte“, erinnert sich Noel Jahre später, „ich würde es nicht aushalten, bis ich’s Mitch Mitchell erzählen konnte – der hätte uns das ewig unter die Nase gerieben.“ Als er wieder in den Pub ging, um Jimi aufzuklären, brüllte der sich gerade mit dem Barmann an.
„Ich hab dir gesagt, ich darf euch nicht bedienen!“, beharrte der Barmann. „Wir haben Vorschriften.“ Noel wollte eingreifen, aber jetzt wurde auch der Barkeeper hitzig und setzte seinen Vortrag fort. „Das Schild an der Tür ist eindeutig, und wenn ich einen von euch reinlasse, dann hängt ihr gleich massenweise hier rum, und so kann ich den Laden nicht führen, auf keinen Fall. Der Zirkus ist schon schlimm genug fürs Geschäft. Und auf dem Schild steht ganz deutlich: ‚Clowns ist der Zutritt untersagt!‘“
Noel erinnerte sich, dass Jimi einige Augenblicke brauchte, bis die Bedeutung der Worte bei ihm ankam. Selbst nachdem Noel Jimi die Erklärung ins Ohr geflüstert hatte – „Die Straße hinauf gastiert ein Zirkus, und der Typ will keine Clowns hier haben. Er hält uns für Clowns“ –, schien Jimi noch immer verdutzt, beinahe bestürzt. Als Jimi allmählich den Witz in seinen kosmischen Ausmaßen begriff, erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. Er wurde nicht aus dem Pub geworfen, weil er schwarz war oder weil er eine Militärjacke trug oder weil er zu ausgeflippt aussah oder sich wie ein Pirat kleidete oder weil er kein Beatle war, sondern weil er auf verdrehte Art und Weise alles das und noch viel mehr war.
In jenem Frühjahr war Jimi der aufregendste Rockstar in ganz Großbritannien; in nur zwei Monaten sollte er dieselbe Militärjacke bei seinem Auftritt auf dem Monterey Pop Festival tragen, das ihm schließlich den Durchbruch bescherte. Dank dieses Konzerts wurde er zum angesagtesten Star weltweit. Beinahe auf den Tag genau zwei Monate später reichte Paul McCartney Jimi nach einem Londoner Konzert einen Joint, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Das war echt geil, Mann.“ Aber an jenem Nachmittag in einem Pub in McCartneys Heimatstadt Liverpool bekam Jimi kein Bier, egal, was er sagte. Der Wirt ließ sich nicht davon überzeugen, dass er einen Popstar vor sich hatte. Das Einzige, was er wusste, war, dass ihm