Eure Liebe. Sylke Richter
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2. Du bist anders
Nach einem Zeitraum von ungefähr anderthalb bis drei Jahren verabschiedet sich diese erste Phase einer Beziehung und macht dem Alltag und einer zweiten Phase Platz. Wir erkennen staunend die Andersartigkeit des Partners. Ist die große Nase nicht doch zu groß für den kleinen Kopf? Wenigstens ins Büro könnte sie einen BH anziehen! Der wöchentliche Besuch bei seinen Eltern ist ja irgendwie nett, aber hat er sich schon abgenabelt? Ihr Selbstbewusstsein in allen Ehren, aber könnte sie nicht auch mal zurückstecken?
Vieles, was man anfangs toll am anderen fand, wird jetzt skeptisch wahrgenommen. Was zunächst faszinierte, wirkt nun störend und kommt auf den Prüfstand. Paare, die sich in dieser Phase befinden, wollen oft nicht wahrhaben, dass das gerade passiert, und sind häufig irritiert. Zweifeln an sich oder noch besser am anderen. Verfallen in aberwitzige Annahmen über die Liebe: Man müsste sich mehr anstrengen. Mehr Zeit miteinander verbringen. Noch näher rücken. Ärger runterschlucken. Enttäuschung auf keinen Fall zeigen! Die Angst, den anderen zu verlieren, ist in dieser Zeit sehr groß. Einer fängt an zu klammern, der andere flüchtet in die Freiheit.
So irritierend dieser Prozess für die Liebenden ist, so wichtig ist er auch, um den anderen in seiner Ganzheit zu sehen und zu akzeptieren. Mit all seinen Facetten, den dunklen und den hellen.
3. Du bist nicht richtig
Hier kommen die Zweifel so richtig in Fahrt: Ist er der Richtige? Ist sie die Richtige? Der andere, der einen doch glücklich machen sollte, ist in Wahrheit ganz anders. Hat er sie getäuscht? Hat sie ihn getäuscht? In dieser Phase kommt es oft zu Vorwürfen und Gegenvorwürfen. Die Umerziehungsphase, wie eine Kollegin diese Zeit auch nennt. Manche Paare bleiben jahrelang auf dieser Stufe stecken, gewöhnen sich daran, dass immer einer unzufrieden ist. Kämpfen. Rechnen auf. Andere trennen sich und wieder andere versuchen es mit einer Paartherapie, weil sie einfach nicht mehr können. Krisen, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, Distanzierung lösen einander ab. Der Kern der Fragen, um die es bei Paaren in dieser Phase immer wieder geht, lautet: Wie nah kann ich dir kommen, ohne mich selbst zu verlieren? Und: Kannst du mich lieben und so akzeptieren, wie ich bin?
4. Ich bin ich
Die Hoffnung, dass der andere einen glücklich macht und einem alle Wünsche von den Augen abliest, ist inzwischen verflogen. Beide sind an ihre Grenzen gekommen, wissen, was der andere zu geben bereit ist und was nicht. Wissen auch von sich selbst besser, was sie zu geben bereit sind und was nicht. Eine Zeit der Ruhe tritt ein. Atemräume, wie ein Kollege so treffend diesen Zustand nennt. Jeder kümmert sich wieder mehr um die eigenen Bedürfnisse und die eigene Entwicklung. Die hohe Kunst ist es, trotz der größeren Unabhängigkeit mit dem anderen in Verbindung zu bleiben. Das Konzentrieren auf das eigene Erleben, die eigene Welt birgt die Gefahr, den Partner aus den Augen zu verlieren. Die Haltung »Ich bin ich« kann dann schnell zu »Ich kann auch ohne dich« kippen. Trennungen sind in dieser Phase nicht selten. Bestenfalls entdeckt man die Partnerin neu, sieht ihr eigenes Leben nicht als Bedrohung oder egoistisches Verhalten, sondern interessiert sich dafür. Manche Paare, die es bis hierhin schaffen, sehen sich wieder mit neuen Augen. Das Stück Fremdheit, das einige Paare brauchen, um den jeweils anderen attraktiv zu finden, blitzt wieder auf.
5. Du und ich sind wir
In dieser Phase, nach all den vorangegangenen Kämpfen, sind die Liebenden in der Lage, eine ausgewogene Balance zwischen den Bedürfnissen nach Geborgenheit und Bindung sowie dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit zu leben. Jeder ist sich seiner selbst sicherer und die Beziehung kann nun zu dem Zufluchtsort werden, für die man sie zu Beginn der Liebe gehalten hat.
Toni: Das bedeutet doch im Grunde, entweder ich lerne seine Andersartigkeit zu akzeptieren oder es geht nicht?
Wenn es zu viel gibt, was dich stört und womit du nicht leben kannst, also zu wenig von dem, was dich anzieht, passt es in der Tat manchmal einfach nicht. Deshalb gibt es viele Trennungen bereits nach zwei bis drei Jahren. Und man darf den Tanz um die Nähe-Distanz- Themen nicht vergessen. Die müssen erst mal getanzt werden.
Wenn ich an ein befreundetes Paar denke, sie sind sechs Jahre zusammen, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sie diese Phasen durchgemacht haben. Sie wirken super harmonisch. Da gab und gibt es keine Vorwürfe. Niemals!
Wir reden ja über Paartherapie. Paare, die sich arrangieren und einrichten in welcher Phase auch immer, werden wir in der Praxis nie sehen. Wo keine Not ist, gibt es keinen Auftrag für uns. Aber eine andere neugierige Frage: Wie findest du deine Freunde in ihrer harmonischen Beziehung?
Sie machen mich oft eine Spur aggressiv.
Da kannst du mal davon ausgehen, dass es auch bei ihnen eine Spur von Aggressionen gibt. Gut gedeckelt. Wahrscheinlich mit viel Angst davor, dass der Deckel hochgehen könnte. Zumindest sind die Gefühle in der Gegenübertragung bei dir da, die alten Gefühle (hier: Aggression) werden in aktuellen Beziehungen oft reaktiviert. Nicht nur in Beziehungen zwischen Therapeuten und Klienten, das ist auch bei anderen Kontakten möglich.
Sie kommen beide aus ziemlich wüsten Elternhäusern und wollen es auf keinen Fall so haben wie früher bei ihren Eltern. Laut, dramatisch, Türenknallen, stundenlanges Anschreien, bis einer das Haus verlässt. Aggressiv. Sie haben sich also das Gegenteil gesucht.
Hypothesen, Hypothesen. Und dennoch, trotz aller Sehnsucht nach Harmonie bekommen die beiden ihre alten Themen in einem anderen Kleid geschenkt. Die Aggressionen sind zwar nicht sichtbar, dennoch scheinen sie da zu sein.
Das heißt, sie müssten lernen, dass es zwischen bedrohlicher Aggression und deckelnder Harmonie noch ziemlich viel dazwischen gibt. Ich schick sie mal zu dir.
Mit Schicken wirst du nicht weit kommen. Das Nichtgesagte, das Ausgeblendete wird sich irgendwann einen Weg suchen. Einer von beiden wird vielleicht explodieren. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht und sie schaffen es noch viele Jahre, ihre Themen wegzudrücken. Aber alles, was wir hier reden, ist hypothetisch. Könnte so sein oder auch ganz anders.
Hypothesen sind oft so hilfreich. Ich kann alles, was in mir auftaucht, als Hypothese formulieren und zur Verfügung stellen. Kann es sein, dass …
Genau, du kannst erst mal alles, was du denkst, zur Verfügung stellen und anschließend müssen die Hypothesen geprüft werden. Wenn sie etwas taugen, wird die Spur weiterverfolgt, wenn sie nichts taugen, fliegen sie über Bord. Und ob sie etwas taugen, wird das Paar entscheiden, nicht wir. Selbst wenn wir zutiefst davon überzeugt sind, dass unsere Hypothese stimmt. Wir müssen sie wieder loslassen, gedanklich flexibel bleiben und mit dem Paar schwingen.
Okay, soweit verstanden. Machen wir weiter. Ich habe eine erste Frage.
1Bevor das Paar im Raum sitzt