Geduld als Ressource. Bettina Siebert-Blaesing
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2.3.5.4 Maria Montessori
Maria Montessori (1870–1952, vgl. Waldschmidt 2015, S. 9) erlangt in Italien als eine der ersten Frauen einen akademischen Abschluss in Medizin (vgl. Montessori 2014, S. 5; Ludwig 2010). In der Sozialpädagogik und Pädagogik haben Fachbücher zur Geduld bisher eine geringe Bedeutung. Der Grund dafür ist unklar, zumal schon Montessori bei der Entwicklung ihres pädagogischen Ansatzes betont, wie essenziell die Geduld für die individuelle Entwicklung des Kindes sei. In ihre Empfehlungen zur Geduld in der Pädagogik lässt sie ihre beruflichen Erfahrungen als Direktorin eines heilpädagogischen Institutes der Psychiatrischen Universitätsklinik in Rom sowie als Leiterin des ersten reformpädagogischen Kinderhauses in San Lorenzo ebenfalls in Rom einfließen (ebd.). Die auf sie zurückgehende Montessori-Pädagogik prägt viele Einrichtungen der gegenwärtigen Primär- und schulischen Erziehung sowie Bildung. Über die Reflexion ihrer Praxiserfahrung gibt Montessori Anregungen für die Begleitung junger Menschen in Orientierungsphasen unter der Berücksichtigung der Geduld. Der pädagogische Ansatz von Montessori zur Geduld zeichnet sich durch folgende Kriterien aus: Montessori definiert die Geduld als eine Tugend,54 die mit Anstrengung55 verbunden ist, in der das Erreichen von Zielen56 aber zu Glück,57 Würde (ebd.) und Bewunderung58 führt. In der Geduld zeigten sich ein Glauben59 und eine Lebensphilosophie (ebd.). Montessori schreibt der Geduld des Lehrers60 Größe61 zu und der Geduld des Kindes Unendlichkeit.62 Die Fähigkeit,63 Geduld zu lernen, sieht sie als Ressource, die in der Persönlichkeit des Kindes schon angelegt ist und die von diesem sowohl durch Alltagserfahrungen als auch durch die Beobachtung von Vorbildern instinktiv geübt werden kann.64 Die Entwicklung von Geduld kann nach Montessori über positive Impulse von außen gefördert werden.65 Lernen versteht Montessori insgesamt als einen Selbstbildungsprozess, der durch geduldiges Üben gekennzeichnet ist.66 Kinder können nach Montessori somit Geduld trainieren und ihren Willen, ein Ziel zu erreichen, prüfen.67 Für Pädagog*innen empfiehlt sie, Geduld als eine Haltung zu sehen, in der die Entwicklung eines Kindes situativ zwischen Beobachtung68 und Eingreifen69 in einen Prozess gefördert wird. Gerade für Lehrer*innen sei diese Methodik anspruchsvoll, da sie sich weniger im Reden, sondern vielmehr im tugendhaften Handeln in der Praxis bewähre.70
2.3.6 Geduld in der Gegenwart
Die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, der Nachkriegsjahre des zweiten Weltkrieges sowie des Aufbaus einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft werfen existenzielle Sinnfragen auf, wie mit der Erfahrung von Leid, von Ungerechtigkeit und dem Erleben von Ohnmacht auch in der Beratung einzelner Menschen umzugehen ist. Die Geduld als eine Ressource wird in dieser Phase besonders in den Werken einzelner Theolog*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen sowie Künstler*innen sichtbar. Exemplarisch werden im Folgenden Aussagen zur Geduld von Personen dargestellt, die für ein (sozial-)pädagogisches Coaching relevant sind.
2.3.6.1 Romano Guardini
Das Wirken Romano Guardinis (1885–1968, vgl. Guardini 1985)71 erstreckt sich über die Jahrhundertwende und die beiden Weltkriege bis in die Nachkriegszeit sowie den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland als demokratischen Staat. Während einer Zeit der psychischen und beruflichen Neuorientierung zwischen seinem Studium und seiner Priesterweihe wird Guardini von einem Ehepaar, das er als „geistige Eltern“ (Guardini 1985, S. 94) beschreibt, mit „Geduld und Sorge“ (ebd.) unterstützt. Manfred Wolferstorf betont, dass Guardini das Krisenerleben von depressiven Menschen mit der Erfahrung eines Gotteserlebens verbindet und ihnen ein intensives spirituelles Gefühl zuspricht (vgl. Wolfersdorf 2011, S.145). Für Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, seien Geduld sowie ein wertschätzendes Warten auf kleine Veränderungen notwendig (vgl. ebd., S. 114). Im Lesebuch der Lebensweisheiten (Guardini 2013), das Empfehlungen im Jahreskreislauf enthält, führt Guardini die Idee einer ruhigen, beständigen, aber auch neue Lebensimpulse integrierenden Begleitung von Menschen fort, die er in der Geduld verankert: Guardini betont, dass das christliche Gottesbild von einem Gott ausgehe, der der Welt treu ist. Gottes Haltung gegenüber der Welt sei die Geduld. In einem Vergleich zwischen dem Tier und dem Menschen kommt Guardini zu dem Schluss, dass nur der Mensch Ungeduld zeigen könne, da er eine Idee von einer Zukunft habe und sich dafür entscheiden könne, einer Entwicklung Zeit zu geben. Geduld besteht für Guardini darin, sowohl die Geschehnisse in der Welt, die Eigenheiten anderer Menschen, besonders der Menschen, mit denen über Jahre eine Verbundenheit entstanden sei, als auch die eigenen anstrengenden Eigenschaften zu akzeptieren und auszuhalten. Geduld beginne immer wieder neu, auch wenn etwas schwierig sei. Dabei sei die Geduld mit einem tiefen Verständnis und mit Akzeptanz der eigenen Person und der Mitmenschen verbunden. In diesem Sinne zeige sich die Geduld als Weisheit (vgl. Guardini 2013, S. 61–65).
2.3.6.2 Dietrich Bonhoeffer
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945, Schäfer 2020c) setzt sich als Jungsekretär des Weltbundes christlicher Studenten, als Pfarrer und als Hochschullehrer bewusst für ein Leben in Frieden und in Gerechtigkeit mit einer Orientierung an der Bergpredigt ein. Schon frühzeitig engagiert er sich im politischen Widerstand gegen das Regime der Nationalsozialisten. Kurz vor Ende des Krieges stirbt er auf Befehl Hitlers im Konzentrationslager Flossenbürg in Bayern. Bis in die heutige Zeit wird er als Märtyrer und als ein Befürworter der Ökumene verehrt (ebd.). In seinem Gedicht Jedes Werden braucht Geduld (Bonhoeffer 2015, S. 7) beschreibt Bonhoeffer vergleichbar mit Rilke (vgl. Kapitel 2.3.5.3), wie sich alle Lebensprozesse durch eine wartende Haltung, Geduld und Zeit hin zu einem „Blühen“ (ebd.) als gewünschtem Zustand entwickeln.
2.3.6.3 Madeleine Delbrêl
Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen entscheidet sich die überzeugte Atheistin (vgl. Georgens und Delbrêl 2004) Madeleine Delbrêl (1904–1964, vgl. Voigt 2010) für ein Studium der Philosophie und Kunst. Als sie in eine familiäre Krise gerät, erlebt sie eine Begegnungserfahrung, in der sie Gott für sich entdeckt (ebd.). Sie schließt sich einer Pfarrgemeinde in Paris an, lässt sich als Sozialarbeiterin ausbilden und übernimmt zusammen mit einer Freundin die Leitung einer Sozialstation während des Zweiten Weltkrieges und entscheidet sich für das Leben in einer spirituellen Gemeinschaft mit anderen Frauen (vgl. Georgens und Delbrêl 2004). Delbrêl setzt sich als „Mystikerin der Straße“ (Delbrêl und Schleinzer 2007, S. 36–38) in dem kommunistisch geprägten Pariser Vorort Ivry für die Anliegen der Arbeiter*innen sowie die Wahrnehmung der Lebenssituation der ärmeren Bevölkerung in einem Christentum in einer säkularisierten Welt ein (vgl. Delbrêl 1991; Delbrêl und Schleinzer 2007). Aufgrund dieser Erfahrungen wird sie als Beraterin für das Zweite Vatikanische Konzil tätig (vgl. Voigt 2010, S. 183–184; Georgens und Delbrêl 2004). Auch die 1993 als „Dienerin Gottes“ (Voigt 2010, S. 183–184) selig gesprochene Delbrêl (2007) wird durch die Erfahrung von Leid während des Zweiten Weltkrieges intensiv geprägt. In ihrem Gedicht Die kleinen Übungen der Geduld (Delbrêl 2010, S. 197–198) beschreibt Delbrêl, wie anstrengend die Menge der Aufgaben und Belastungen des Alltages besonders aus Sicht einer Frau sind (vgl. Delbrêl und Schleinzer 2007, S. 36–38; Delbrêl in Voigt 2010, S. 183–184). Diese Erfahrungen definiert Delbrêl als „kleine Geduldsübungen“ (ebd.), die als „Partikel“ (ebd.) zu einer „großen Passion“ (ebd.) als Sinnbild einer einzigartigen Leidenschaft oder einem Lebensziel hinführten. Sie erfüllten sich jedoch nicht in persönlichem Ruhm, auch nicht im individuellen Überleben, sondern einzig in der „Ehre“ (ebd., Anm. BSB: gemeint ist die Ehre Gottes). Delbrêl vergleicht die „kleinen Übungen der Geduld“ (ebd.) mit einem „Martyrium“ (ebd.) und einem „Opfer“ (ebd.), die auf diesem Weg zu erweisen seien.
2.3.6.4 Dorothee Sölle
Dorothee Sölle (1929–2003)72 setzt sich mit den Themen der Friedens- und Ökologiebewegung, der Schöpfung, den Rollen von Frauen sowie den Fragen der Macht und der Gerechtigkeit auseinander (vgl. Sölle 1999). Ihr Werk steht für eine intensive Verbindung von Mystik, Widerstand und Befreiung.