Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
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Im Mai 1968, Kurt war fünfzehn Monate alt, schrieb Wendys vierzehnjährige Schwester Mari im Hauswirtschaftsunterricht einen Aufsatz über ihren Neffen: „Meistens kümmert sich seine Mutter um ihn“, schrieb Mari. „[Sie] zeigt ihm ihre Zuneigung, indem sie ihn auf den Arm nimmt, ihn lobt, wenn er es verdient hat, und indem sie an vielen von seinen Aktivitäten teilnimmt. Er reagiert auf seinen Vater, indem er lächelt, wenn er ihn sieht, und er hat es gern, wenn sein Vater ihn auf den Arm nimmt. Wenn er etwas will, macht er zunächst durch lautes Geschrei darauf aufmerksam, und wenn das nicht hilft, verlegt er sich aufs Heulen.“ Außerdem weiß Mari zu berichten, Kurts Lieblingsspiel sei „Kuckuck“ gewesen und dass er mit acht Monaten den ersten Zahn bekam. Sein erstes Dutzend Wörter war „Coco, Momma, Dadda, Ball, Toast, bye-bye, hi, Baby, mich, Liebe, Hotdog und miez“.
Unter Lieblingsspielzeug listet Mari eine Mundharmonika, eine Trommel, einen Basketball, Autos, Laster, Bauklötze, einen Spielzeugfernseher, ein Telefon und ein Holzgebilde auf, mit dem seine Mutter Nähte flach klopfte. Über Kurts Tagesablauf schreibt sie: „Auf Schlaf reagiert er mit Heulen, wenn man ihn dazu ins Bettchen legt. Er interessiert sich derart für die Familie, dass er sie nicht verlassen will.“ Abschließend meinte die Tante: „Er ist ein glückliches, lächelndes Baby, und seine Persönlichkeit entwickelt sich so wegen der Aufmerksamkeit und der Liebe, die er erfährt.“
Wendy war eine aufmerksame Mutter; sie las Bücher über den Lernprozess, sie kaufte Lernkarten mit Wörtern und Buchstaben darauf und sorgte, mit Unterstützung ihrer Brüder und Schwestern, dafür, dass es Kurt an nichts fehlte. Die ganze Großfamilie feierte den Kleinen mit vereinten Kräften, und Kurt blühte auf unter all der Aufmerksamkeit. „Ich kann unmöglich in Worte fassen, wie viel Freude und Leben Kurt in die Familie brachte“, erinnerte sich Mari. „Er war ein kleines quirliges Bündel Leben. Er hatte schon als Baby Charisma. Er war lustig, und er war gescheit.“ Wenn seine Tante nicht dahinter kam, wie man sein Bettchen tiefer stellte, war der Anderthalbjährige clever genug, es selbst zu verstellen.
Wendy war so hingerissen von den Faxen ihres Sohnes, dass sie immer wieder eine Super-Acht-Kamera mietete und Filme mit dem kleinen Kurt schoss – eine Ausgabe, die die Familie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Einer dieser Filme zeigt einen selig lächelnden kleinen Jungen an seinem zweiten Geburtstag beim Anschneiden der Torte. Er schien für seine Eltern der Mittelpunkt des Universums zu sein.
Bereits an seinem zweiten Weihnachtsfest zeigte Kurt Interesse an der Musik. Die Fradenburgs waren eine musikalische Familie – Wendys älterer Bruder Chuck spielte in einer Band, die sich The Beachcombers nannte; Mari spielte Gitarre, und Großonkel Delbert verdiente sein Geld als irischer Tenor – er hatte sogar in einem Film mitgespielt, The King of Jazz. Wenn die Cobains in Cosmopolis auf Besuch waren, saß Kurt fasziniert bei den Familien-Jamsessions dabei. Seine Onkel und Tanten nahmen ihn sogar beim Singen auf: „Hey Jude“ von den Beatles, Arlo Guthries „Motorcycle Song“ und den Titelsong der Fernsehserie The Monkees. Schon als Kleinkind hatte Kurt Spaß daran, seine eigenen Liedertexte zu basteln. Als er einmal – er war vier – mit Mari vom Park zurückkam, setzte er sich an das Familienklavier und klimperte ein einfaches Liedchen über ihr Abenteuer. „Wir waren im Park und haben Bonbons gekauft“, sang er vor sich hin. „Ich war völlig baff“, erinnerte sich Mari. „Ich hätte das Tonband anmachen sollen – das war wahrscheinlich sein erster Song.“
Kurz nach seinem zweiten Geburtstag legte Kurt sich einen imaginären Freund zu, den er Boddah nannte. Schließlich machten sich seine Eltern Sorgen um seine Bindung zu dem Phantomkameraden, und als ein Onkel nach Vietnam musste, erzählten sie dem Kleinen, Boddah sei mit ihm eingezogen worden. Aber so ganz kaufte Kurt ihnen diese Geschichte nicht ab. Als er drei Jahre alt war, spielte er mit dem Tonbandgerät seiner Tante herum, das zufällig auf „Echo“ gestellt war. Als Kurt das Echo hörte, fragte er: „Redet diese Stimme mit mir? Boddah? Boddah?“
Im September 1969 – Kurt war zweieinhalb Jahre alt – kauften Don und Wendy sich ihr erstes eigenes Haus. Die Nummer 1210 East First Street in Aberdeen war ein zweigeschossiges Häuschen mit gut neunzig Quadratmeter Wohnfläche, dazu Garten und Garage. Sie bezahlten siebentausendneunhundertfünfzig Dollar dafür. Das Gebäude aus den Zwanzigerjahren befand sich in einer Gegend, die gelegentlich schon mal abschätzig als Verbrecherviertel bezeichnet wurde. Nördlich des Häuschens schob sich der Wishkah River, der bei Hochwasser immer wieder einmal über die Ufer trat, in die Bucht. Im Südosten lag ein bewaldeter Steilhang, den die Einheimischen „Think of Me Hill“ nannten – um die Jahrhundertwende hatte dort eine Zigarrenreklame der Marke Think of Me gestanden.
Es war ein Mittelschichthaus in einer Mittelschichtgegend – „White trash, der auf Mittelschicht machte“, sagte Kurt später über die Gegend. Im Erdgeschoss befanden sich Wohn- und Esszimmer, die Küche sowie das Schlafzimmer von Wendy und Don. Das Obergeschoss hatte drei Zimmer: ein kleines Spielzimmer und zwei Kinderzimmer, von denen eins für Kurt bestimmt war. Das andere war für Kurts Geschwister eingeplant – Wendy hatte diesen Monat erfahren, dass sie zum zweiten Mal schwanger war.
Kurt war drei, als seine Schwester Kimberley zur Welt kam. Schon als Säugling sah sie ihrem Bruder bemerkenswert ähnlich: Sie hatte dieselben hypnotischen blauen Augen, dasselbe flachsblonde Haar. Als Kimberley aus der Klinik nachhause gebracht wurde, bestand Kurt darauf, sie ins Haus zu tragen. „Er war so was von vernarrt in sie“, erinnerte sich sein Vater. „Und zuerst waren die beiden wirklich ein Herz und eine Seele.“ Der Altersunterschied von drei Jahren war ideal, Kimberleys Wohlergehen wurde ein Hauptgesprächsthema von Kurt. Hier lag der Ursprung eines Charakterzugs, der Kurt sein ganzes Leben lang mitbestimmen sollte: die Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen und dem Kummer anderer – ein Einfühlungsvermögen, in das er sich bisweilen übermäßig hineinsteigern konnte.
Die beiden Kinder veränderten den Alltag im Hause Cobain grundlegend, und das bisschen Freizeit, das den Eltern geblieben war, wurde von Besuchen bei der Familie und Dons Interesse am Sport aufgefressen. Don spielte den Winter über in einer Basketballliga, im Sommer spielte er Baseball; ein gut Teil ihres sozialen Umgangs bestand darin, zu Spielen oder Partys nach den Spielen zu gehen. Über den Sport lernten die Cobains auch Rod und Dres Herling kennen und freundeten sich mit ihnen an. „Sie waren gute Leute mit Familiensinn, die viel mit ihren Kindern unternahmen“, erinnerte sich Rod Herling. Im Vergleich zu Altersgenossen in den Sechzigerjahren waren sie auffallend spießig: Nicht einer in ihrem Freundeskreis rauchte Pot, und auch Alkohol gab es bei den beiden kaum.
Eines Abends im Sommer waren die Herlings auf eine Kartenspielpartie bei den Cobains zu Besuch, als Don ins Wohnzimmer kam: „Ich habe eine Ratte erwischt“, sagte er. Ratten waren in Aberdeen nichts Ungewöhnliches, so tief gelegen und feucht, wie die Gegend war. Don befestigte ein Fleischermesser an einem Besenstiel, schon hatte er einen primitiven Speer. Der fünfjährige Kurt war sofort Feuer und Flamme und folgte dem Vater in die Garage, wo der Nager in einer Mülltonne saß. Don sagte Kurt, er solle Abstand halten, aber einem neugierigen Kerlchen wie ihm war das unmöglich. Er rückte langsam näher und hatte schließlich das Hosenbein des Vaters in der Hand. Rod Herlings Plan sah vor, dass er den Deckel der Mülltonne anheben würde, damit Don die Ratte aufspießen konnte. Herling hob den Deckel, Don warf den Besenstiel, verfehlte die Ratte jedoch, und der Speer bohrte sich in den Boden. Während Don den Spieß vergeblich herauszuziehen versuchte, kletterte die Ratte – ruhig und leicht verwirrt – den Besenstiel hinauf, huschte