Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
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Im September 1972 kam Kurt in den Kindergarten der Robert Gray Elementary, der Grundschule, die nur drei Straßen vom Haus entfernt war. Wendy ging am ersten Tag mit ihm zur Schule, danach war er auf sich allein gestellt; die Gegend um die First Street war längst sein Revier geworden. Seine Lehrer kannten ihn als frühreifen, neugierigen Schüler mit einem Snoopy auf der Brotbox. In seinem Zeugnis stand in jenem Jahr: „Ein wirklich guter Schüler.“ Und schüchtern war er auch nicht. Als zum Anschauungsunterricht ein Bärenjunges in die Schule gebracht wurde, war Kurt eines der wenigen Kinder, die sich damit fotografieren ließen.
Kunsterziehung war mit Abstand sein bestes Fach. Schon als er fünf war, zeigte sich deutlich, dass er künstlerisch außergewöhnlich begabt war. Die Bilder, die er malte, wirkten bereits völlig realistisch. Tony Hirschman, der Kurt im Kindergarten kennen lernte, war von dem Geschick seines Klassenkameraden beeindruckt: „Er konnte einfach alles zeichnen. Einmal haben wir uns Bilder von Werwölfen angeschaut, und danach hat er einen gezeichnet, der genauso aussah wie die auf dem Foto.“ Noch im selben Jahr zeichnete Kurt eine Reihe von Bildern mit den Comicfiguren Aquaman, Micky Maus, Pluto und dem Kiemenmann aus dem Schrecken vom Amazonas. Wenn es Geschenke gab, bekam er von der Familie Mal- und Zeichenutensilien, sein Zimmer sah langsam, aber sicher aus wie ein Atelier.
Zuspruch in diese Richtung erfuhr Kurt vor allem durch seine Großmutter väterlicherseits, Iris Cobain. Sie sammelte Norman-Rockwell-Memorabilia, hauptsächlich die Teller der Franklin Mint mit Rockwells Illustrationen für die Saturday Evening Post. Sie selbst kopierte Rockwells Arbeiten als Stickereien, und ein Druck seines berühmtesten Bildes – „Freedom from Want“, der Archetyp einer amerikanischen Thanksgiving-Szene – hing an der Wand ihres Wohnwagens in Montesano. Iris brachte Kurt sogar dazu, eines ihrer Lieblingshobbys aufzunehmen: Sie kratzte mit Zahnstochern Rockwells Bilder in die Hüte frisch gepflückter Pilze. Nach dem Trocknen der großen Pilze blieben diese „Radierungen“ erhalten, wie bei einer Elfenbeinschnitzerei.
Iris’ Mann, Kurts Großvater Leland Cobain, hatte sein Leben lang Straßenwalze gefahren, was ihn den Großteil seines Gehörs gekostet hatte. Er hatte selbst keine künstlerische Ader, aber er brachte Kurt die Arbeit mit Holz bei. Leland war ein eher schroffer, verdrießlicher Typ, und als sein Enkel, der eine besondere Schwäche für Disney-Figuren hatte, ihm eines Tages eine selbst gezeichnete Micky Maus zeigte, beschuldigte Leland ihn, sie nur durchgepaust zu haben. „Hab ich nicht“, sagte Kurt. „Und ob du die durchgepaust hast“, antwortete Leland. Dann gab er Kurt ein frisches Blatt Papier und einen Bleistift. „Hier“, forderte er ihn auf, „zeichne mir doch noch eine, zeig mir, wie du’s gemacht hast.“ Der Sechsjährige setzte sich hin und zeichnete ihm, ganz ohne Vorlage, einen nahezu perfekten Donald Duck. Und dann gleich noch einen Goofy. Mit einem breiten Grinsen guckte er Leland an – er freute sich nicht weniger darüber, es seinem Großvater gezeigt zu haben, als über die gelungene Zeichnung seiner geliebten Ente.
Kurts Kreativität erstreckte sich zunehmend auf die Musik. Obwohl er nie Klavierstunden hatte, konnte er einfache Melodien nach Gehör nachspielen. „Schon als kleines Kind“, erinnerte sich Schwester Kim, „konnte er sich hinsetzen und einfach etwas spielen, was er im Radio gehört hatte. Er konnte künstlerisch ausdrücken, was in ihm vorging, ob auf Papier oder durch Musik.“ Um ihn weiter zu ermutigen, kauften Don und Wendy ihm ein Micky-Maus-Kinderschlagzeug, auf das Kurt eindrosch, wenn er nachmittags aus der Schule kam. Er mochte diese Plastiktrommeln, aber noch lieber waren ihm die echten Drums zuhause bei seinem Onkel Chuck, weil sich darauf mehr Lärm machen ließ. Er hängte sich gern Tante Maris Gitarre um, obwohl ihr Gewicht ihn schier in die Knie zwang. Er schrubbte darauf herum und erfand Liedchen dazu. Im gleichen Jahr kaufte Kurt sich seine erste Platte, Terry Jacks’ zuckrige Ballade „Seasons In The Sun“.
Für sein Leben gern blätterte er die LP-Sammlungen seiner Onkel und Tanten durch. Einmal – er war sechs – war er zu Besuch bei Tante Mari und grub sich durch ihre Plattensammlung auf der Suche nach einem Beatles-Album – die Beatles waren eine seiner Lieblingsbands. Plötzlich schrie Kurt auf und kam wie in Panik zu seiner Tante gerannt. Er hielt ihr Yesterday And Today von den Beatles hin, das Album mit dem berühmt-berüchtigten „Butcher“-Cover. Es zeigt die Pilzköpfe in Fleischerkitteln mit malträtierten Puppen- und Fleischteilen; Capitol nahm das Cover mit dem Foto, das noch nicht einmal für diesen Zweck bestimmt war, rasch wieder vom Markt. „Mir wurde klar, wie empfänglich er schon in diesem Alter für Eindrücke war“, erinnerte sich Mari.
Auch auf die zunehmenden Spannungen zwischen seinen Eltern reagierte der Jungen sensibel. Nicht dass während seiner ersten Lebensjahre viel gestritten worden wäre, aber Hinweise auf eine stürmische Liebe zwischen Don und Wendy gab es auch nicht gerade. Wie so viele Paare, die jung heiraten, hatten die beiden sich einfach in die Umstände gefügt. Ihre Kinder wurden zum Mittelpunkt ihres Lebens, und was immer an romantischer Liebe vor der Geburt der Kinder da gewesen sein mochte, es ließ sich nicht wieder entfachen. Don verzagte nahezu wegen der ständigen Finanzprobleme; Wendy hatte mit den Kindern alle Hände voll zu tun. Immer öfter kam es zu Streitereien, schließlich schrien sie sich auch vor den Kindern an. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich abschufte!“, hielt Don Wendy vor, und sie konterte mit demselben Anwurf.
Trotz allem hatte Kurts frühe Kindheit auch eine Menge Freude zu bieten. Im Sommer machte die Familie Ferien in einer Blockhütte der Fradenburgs in dem an der Pazifikküste gelegenen Örtchen Washaway Beach. Im Winter ging es zum Schlittenfahren. In Aberdeen selbst schneite es eher selten, man musste dazu weiter in den Osten, in die Hügel hinter der Holzstadt Porter zum Fuzzy Top Mountain, fahren. Diese Ausflüge zum Rodeln folgten immer ein und demselben Muster. Sie parkten und luden Dons und Wendys kufenlosen Eskimoschlitten, Kims silberne Plastikrutsche und Kurts modernen Flexible Flyer aus. Dann machte man sich bereit für die Abfahrt. Kurt nahm grundsätzlich Anlauf wie ein Weitspringer, bevor er sich den Hang hinabstürzte. Unten angekommen winkte er seinen Eltern zu – das Signal, dass er die Abfahrt überlebt hatte. Der Rest der Familie kam hinterher, dann machte man sich gemeinsam wieder an den Aufstieg. Dieser Zyklus wiederholte sich stundenlang, bis die Dunkelheit hereinbrach oder Kurt vor Erschöpfung umkippte. Auf dem Weg zurück zum Auto mussten die Eltern versprechen, am nächsten Wochenende wieder mit ihm herzufahren. Für Kurt waren diese Ausflüge später die glücklichsten Erinnerungen an seine Kindheit.
Als Kurt sechs war, ging die Familie zusammen in ein Fotostudio in der Stadt und ließ ein formelles Weihnachtsporträt von sich machen.
Wendy sitzt auf diesem Bild in der Mitte auf einem übergroßen Holzstuhl mit hoher Lehne und trägt ein viktorianisches Kleid mit gerüschten Ärmelsäumen. Ein Spot hinter ihr umgibt sie mit einem weichen Schein. Sie trägt ein schwarzes Samthalsband, das schulterlange rotblonde Haar ist sorgfältig gekämmt und in der Mitte gescheitelt, keine Strähne sitzt schief. In ihrer vollkommenen Körperhaltung und der Art, wie sie die Hände über die Stuhllehnen hängen lässt, sieht sie wie eine Königin aus.
Die dreijährige Kim sitzt auf dem Schoß der Mutter. In ihrem langen weißen Kleid und den schwarzen Lacklederschuhen wirkt sie wie eine Miniaturausgabe ihrer Mama. Sie starrt direkt in die Kamera und sieht aus, als wolle sie jeden Augenblick losheulen. Don steht hinter dem Stuhl, nahe genug, um nicht aus dem Rahmen zu fallen, scheint aber nicht so recht bei der Sache. Er lässt die Schultern etwas hängen, und sein Lächeln wirkt eher gedankenverloren als echt. Er trägt ein helles lila Hemd mit überdimensionalem Kragen und eine graue Weste, eine Aufmachung, in der man sich Steve Martin oder Dan Aykroyd in einem ihrer verrückten Sketches in Saturday Night Live vorstellen könnte. Dem Blick nach scheint er weiß Gott wo zu sein, als überlege er, wie er sich bloß vor diese Kamera zerren lassen konnte, wo er doch auf dem Sportplatz sein könnte.
Kurt