Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
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Anfangs konnte Kurt Jenny gut leiden – sie bot ihm die Aufmerksamkeit einer Frau, die ihm fehlte –, aber seine positiven Gefühle ihr gegenüber führten bei ihm zu einem inneren Konflikt: Wenn er sie gern hatte, dann verriet er ja seine Liebe zu seiner Mutter und zu seiner „richtigen“ Familie. Wie sein Vater klammerte sich Kurt an die Hoffnung, dass die Scheidung nur ein vorübergehender Rückschlag sein mochte, ein böser Traum, aus dem er irgendwann wieder erwachen würde. Die erneute Heirat seines Vaters und der nun viel zu kleine Trailer zerstörten ihm diese Illusion. Don war kein Mann vieler Worte, und er hatte nie wirklich gelernt, Gefühle auszudrücken. „Du hast gesagt, du würdest nicht wieder heiraten“, warf Kurt ihm vor. „Tja, weißt du, die Dinge ändern sich eben“, antwortete der Vater.
Jenny versuchte ihn zu erreichen, aber ohne Erfolg. „Anfänglich brachte er jedem viel Zuneigung entgegen“, erinnerte sie sich. Später hielt Kurt seinem Vater das Versprechen, nicht wieder zu heiraten, immer häufiger vor und zog sich immer tiefer in sich zurück. Don und Jenny versuchten dies zu kompensieren, indem sie Kurt in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten – so durfte er etwa seine Geschenke als Erster öffnen und hatte im Haushalt weniger Pflichten als die anderen –, aber diese kleinen Opfer sorgten nur dafür, dass er sich emotional noch weiter zurückzog. Er spielte gelegentlich ganz gern mit seinen Stiefgeschwistern, triezte sie aber auch viel. Besonders gnadenlos setzte er Mindy wegen ihres Überbisses zu und äffte ständig – vor ihr – deren Sprachfehler nach.
Eine vorübergehende Besserung trat ein, als die Familie in ein eigenes Haus in der Fleet Street South 413 in Montesano umzog. Kurt bekam ein eigenes Zimmer, das mit seinen runden Fenstern wie eine Schiffskabine aussah. Nicht lange nach dem Umzug, im Januar 1997, brachte Jenny einen weiteren Sohn zur Welt, Chad Cobain. Damit eiferten nun neben der Stiefmutter zwei Kinder und ein Baby um die Aufmerksamkeit, die früher einmal allein Kurt gegolten hatte.
Kurt hatte freies Feld, was Montesanos Parks, Gassen und Wiesen anging. Die Stadt war so klein, dass ein Fortbewegungsmittel kaum vonnöten war: Der Baseballplatz war vier Blocks weit weg, die Schule lag gleich die Straße hinauf, und alle seine Freunde ließen sich zu Fuß erreichen. Im Gegensatz zu Aberdeen schien Monte geradewegs aus einem Theaterstück von Thornton Wilder, dem Dramatiker, der mit Our Town (Unsere kleine Stadt) das traditionelle amerikanische Kleinstadtleben verewigt hat, zu stammen, es erschien wie ein einfacheres, freundlicheres Stückchen Amerika. Mittwochs war Familienabend im Haus der Cobains. Man spielte Brettspiele wie „Parcheesi“ (ähnlich unserem „Mensch, ärgere dich nicht“) oder „Monopoly“, Kurt beteiligte sich an diesen Aktivitäten mit derselben Begeisterung wie alle anderen auch.
Das Geld war knapp, sodass sich die Familie in den Ferien meist nur Campingtrips leisten konnte, aber Kurt war der Erste, der im Autos saß, wenn es losging. Seine Schwester Kim durfte ebenfalls mit auf diese Ausflüge, bis Don und Wendy sich eines Tages darüber stritten, ob er weniger Unterhalt zahlen müsse, wenn er Kim mitnahm. Danach bekam Kim Vater und Bruder immer seltener zu sehen. Kurt besuchte seine Mutter zwar weiter an den Wochenenden, aber das waren keine warmherzigen Wiedersehen mehr; vielmehr war es eher so, dass die Besuche bei Kurt wieder in den alten Wunden der Scheidung herumstocherten. Wendy und Don konnten schlicht und einfach nicht mehr zivilisiert miteinander umgehen, Kurts Ausflüge nach Aberdeen hießen für ihn vor allem, seinen Eltern zuzusehen, wie sie sich über die Besuchszeiten in die Haare gerieten. Und noch ein weiterer Schatten legte sich über einen seiner Wochenendbesuche: Puff, seine geliebte Katze, lief weg und wurde nie wieder gesehen.
Wie alle Kinder war Kurt ein Gewohnheitstier, er hatte seine Freude an festen Strukturen wie dem Familienabend. Aber selbst dieser kleine Trost stürzte ihn in einen Konflikt: Er sehnte sich nach Nähe, hatte aber auf der anderen Seite Angst davor, am Ende wieder verlassen zu werden. Er hatte die Pubertät erreicht, eine Lebensphase, in der heranwachsende Jungen zwischen sich und ihren Eltern zu differenzieren und nach einer eigenen Identität zu suchen beginnen. Kurt trauerte aber noch immer dem Verlust seines ursprünglichen Familiennests nach, die notwendige Abnabelung wurde für ihn zu einer von Ängsten überschatteten Angelegenheit. Er verarbeitete die vielen widersprüchlichen Gefühle, indem er sich emotional von Don und Wendy abzukapseln begann. Er sagte sich und seinen Freunden, dass er die beiden hasste, eine Gehässigkeit, mit der sich seine eigene Distanziertheit rechtfertigen ließ. Aber selbst wenn er den Nachmittag lang mit seinen Freunden herumgezogen war und über die Gemeinheit seiner Eltern geschimpft hatte – am Familienabend war er wieder dabei, und er war der Einzige im Haus, dem diese Abende nie lange genug dauern konnten.
Feiertage waren immer ein Problem. Thanksgiving und Weihnachten 1978 sah sich Kurt zwischen einem halben Dutzend Haushalten herumgeschoben. Waren seine Gefühle für Jenny eine Mischung aus Zuneigung, Eifersucht und Verrat an seiner Mutter, hatte er für Wendys Freund Frank Franich nichts als blanke Wut übrig. Wendy hatte außerdem angefangen, heftig zu trinken, und der Alkohol machte sie nur noch bissiger. Eines Abends brach Franich Wendy den Arm – Kim wurde Zeugin dieses Vorfalls –, und sie musste ins Krankenhaus. Als sie wiederhergestellt war, weigerte sie sich, Anzeige zu erstatten. Ihr Bruder drohte Franich, aber gegen Wendys Zuneigung zu Franich kam die Familie nicht an. Viele waren damals der Meinung, dass Wendy nur des Geldes wegen mit Franich zusammenblieb. Sie hatte zwar nach der Scheidung einen Job als Verkäuferin bei Pearson’s, einem Kaufhaus in Aberdeen, angenommen, aber es war Franichs Gehalt als Hafenarbeiter, mit dem sie sich nicht alltäglichen Luxus wie etwa Kabelfernsehen leisten konnten. Vor Franich war Wendy mit ihren Rechnungen derart in Verzug geraten, dass man schon gedroht hatte, ihr den Strom abzustellen.
Kurt wurde in jenem Jahr elf. Er war klein und schmächtig, aber richtig ohnmächtig und schwach fühlte er sich nur in der Gesellschaft von Franich. Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie zugleich dafür, sie bedauern zu müssen. Seine Eltern waren seine Götter gewesen, als er klein war. Jetzt waren sie gefallene Idole, falsche Götzen, denen nicht mehr zu trauen war.
Diese inneren Konflikte begannen sich schließlich in Kurts Verhalten zu äußern. Er war frech zu Erwachsenen, weigerte sich, seinen Pflichten nachzukommen, und trotz seiner Schmächtigkeit begann er einen Klassenkameraden derart zu terrorisieren, dass der nicht mehr in die Schule gehen wollte. Lehrer und Eltern schalteten sich ein, und alles fragte sich, wie so ein süßer Junge so ekelhaft hatte werden können. Am Ende ihrer Weisheit, brachten Don und Jenny Kurt schließlich zur Therapie. Man versuchte sich auch an ein wenig Familientherapie, aber Don und Wendy schafften es einfach nie, zu den gleichen Terminen aufzutauchen. Der Therapeut führte aber einige Gespräche mit Kurt. Sein Schluss war, dass Kurt eine Familie brauchte – und zwar eben nur eine. „Uns wurde gesagt, wenn er bei uns bleiben sollte, dann müssten wir uns um das Sorgerecht bemühen, damit er wüsste, dass wir ihn als Teil der Familie akzeptierten“, erinnerte sich Jenny. „Leider sorgte die Debatte darüber nur für neue Probleme zwischen Wendy und Don.“
Don und Wendy waren nun schon seit mehreren Jahren geschieden, aber ihr Zorn aufeinander hatte sich gehalten, ja hatte sich durch die Kinder noch verschärft. Wendy hatte ein schwieriges Jahr hinter sich: Ihr eigener Vater, Charles Fradenburg, war ganz plötzlich, zehn Tage nach seinem einundsechzigsten Geburtstag, an einem Herzanfall verstorben. Wendys Mutter Peggy war immer eine Einzelgängerin gewesen, und Wendy hatte Angst, der Tod ihres Mannes könnte