Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
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Es war eine Tragödie von Shakespeare’schen Ausmaßen. Wie weit Kurt sich auch von der Matte entfernte, aus dem Augenwinkel sah er immer den Vater oder genauer gesagt – da die Beziehung mit seinem Vater nun praktisch tot war – dessen Geist. Fast ein Jahrzehnt nach jener Niederlage im ersten Highschooljahr feuerte Kurt in dem Song „Serve The Servants“ eine bittere Textzeile ab, eine weitere Runde in dem endlosen Kampf mit seinem größten Gegner: „Ich habe mir alle Mühe gegeben, einen Vater zu haben, aber stattdessen hatte ich einen Dad.“
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PRAIRIE BELT SAUSAGE BOY
Aberdeen, Washington, März 1982 bis März 1983
Hab keine Angst davor, ordentlich zuzuhauen, streng dich ruhig ein bisschen an.
– Aus dem Cartoon Meet Jimmy, the Prairie Belt Sausage Boy.
Auf sein eigenes Betreiben verließ Kurt im März das Haus in der Fleet Street 413 und die Obhut seines Vaters und seiner Stiefmutter, um die nächsten paar Jahre in der „Wildnis“ von Grays Harbor herumzutreiben. Obwohl er zwei längere Stopps von je knapp einem Jahr einlegte, lebte er während der nächsten vier Jahre in zehn verschiedenen Häusern, bei zehn verschiedenen Familien. Zuhause fühlte er sich in keiner von ihnen.
Zunächst mal versuchte er es mit vertrautem Terrain und zog zu seinen Großeltern väterlicherseits in deren Trailer. Da dieser außerhalb der Stadt stand, nahm Kurt, um nicht die Schule wechseln zu müssen, jeden Morgen den Bus nach Monte. Aber selbst seine Klassenkameraden merkten, wie hart diese Umstellung für ihn war. Immerhin fand er bei seinen Großeltern das offene Ohr seiner geliebten Iris, und auch mit Leland hatte er den einen oder anderen intimen Augenblick; die meiste Zeit jedoch blieb er allein. Es war ein weiterer Schritt in Richtung einer weitaus umfassenderen, tieferen Einsamkeit.
Eines Tages ging er seinem Großvater beim Bau eines Puppenhauses zu Iris’ Geburtstag zur Hand. Methodisch tackerte Kurt die winzigen Zedernschindeln aufs Dach. Aus dem Holz, das übrig blieb, bastelte er ein primitives Schachspiel. Erst zeichnete er die Umrisse der Figuren aufs Holz, dann schnitzte er mühsam jede einzelne mit dem Messer zurecht. Sein Großvater brachte ihm bei, mit der Stichsäge umzugehen, dann überließ er den Fünfzehnjährigen sich selbst und sah ihm von der Tür aus zu. Immer wieder hob der Junge den Kopf, um die Anerkennung seines Großvaters einzuholen. „Du machst das ganz prima, Kurt“, sagte der.
Leider hatte Leland nicht immer nur freundliche Worte für ihn, und bald sah sich Kurt in derselben Vater-Sohn-Dynamik, die ihm schon von Don her vertraut war. Leland war mit Kritik nicht weniger rasch bei der Hand als mit Lob, wobei zu seiner Verteidigung gesagt sei, dass Kurt einem auch arg auf die Nerven fallen konnte. Seit seinen frühen Teenagerjahren war er ständig dabei, die Grenzen auszutesten, wie weit er gehen konnte, und so viele Elternfiguren – von denen keine letztendliche Autorität über ihn hatte – er auch über die Jahre hatte, er rieb sie schließlich alle auf. Seine Familie zeichnete das Bild eines eigensinnigen, aufmüpfigen Jungen, der weder auf Erwachsene hören noch arbeiten wollte. Diese Faulheit schien ebenso zu seinem Wesen zu gehören wie seine Verdrießlichkeit, ganz im Gegensatz zu allen anderen in der Familie – sogar seine kleine Schwester Kim steuerte mit Zeitungsaustragen zur Haushaltskasse bei. „Kurt war faul“, erinnerte sich sein Onkel Jim Cobain. „Ob das nun daran lag, dass er ein typischer Teenager war, oder daran, dass er depressiv war, wer wollte das schon beurteilen können.“
Im Sommer 1982 verließ Kurt Montesano und zog zu seinem Onkel Jim nach South Aberdeen. Jim war überrascht, dass ihm diese Verantwortung übertragen wurde. „Mit ist echt die Luft weggeblieben, dass die ihn zu mir ziehen lassen wollten“, erinnerte sich Jim Cobain. „Ich rauchte doch Pot zu der Zeit. Ich hatte keine Ahnung, was der Junge brauchte, geschweige denn, was ich da tat.“ Immerhin war Jim bei all seinem Mangel an Erfahrung kein plumper Zuchtmeister. Nur zwei Jahre jünger als sein Bruder Don, war er viel hipper als dieser – und er hatte eine große Plattensammlung: „Ich hatte eine ziemlich gute Stereoanlage und einen Haufen Platten von den Grateful Dead, Led Zeppelin, den Beatles. Und ich hab das Teil schon auch ordentlich aufgedreht.“ Seine größte Freude in diesen Monaten bei Jim hatte Kurt daran, mit diesem einen Verstärker umzubauen.
Jim und seine Frau hatten eine Tochter im Säuglingsalter, sodass Kurt schon aus Platzgründen bald wieder gehen musste. Er fing an, bei Wendys Brüdern und Schwestern ein- und auszuziehen. „Kurt wurde von Verwandten zu Verwandten gereicht“, erinnert sich Jim. Kurt war der Archetyp eines Schlüsselkindes. Er kam mit seinen Onkeln und Tanten besser aus als mit seinen Eltern, aber seine Probleme mit Autorität nahm er mit. Seine Onkel und Tanten waren weniger streng, aber in den Haushalten, in denen es lockerer zuging, gab man sich auch weniger Mühe, das familiäre Beisammensein zu strukturieren. Seine Verwandten hatten ihre eigenen Probleme, ihren eigenen Existenzkampf – nirgendwo hatte man wirklich Platz für ihn, weder physisch noch emotionell, und Kurt wusste das.
Er verbrachte einige Monate bei seinem Onkel Chuck, wo er anfing, Gitarrenstunden zu nehmen. Chuck spielte in einer Band mit einem Kumpel namens Warren Mason, einem der heißesten Gitarristen der Bucht. Wenn sie – mit viel Pot und einer Flasche Jack Daniel’s – bei Chuck zuhause probten, saß Kurt in einer Ecke und hörte zu und starrte Warren dabei an wie ein Verhungernder ein Frikadellensandwich. Eines Tages fragte Chuck Warren, ob er dem Jungen nicht Unterricht geben wolle, und so begann Kurts formelle Musikausbildung.
Laut Kurt selbst nahm er nur zwei, drei Stunden und lernte in dieser kurzen Zeit alles, was er wissen musste. Warren jedoch erinnert sich, ihm monatelang Unterricht gegeben zu haben und dass Kurt die Stunden ausgesprochen ernst nahm und sich wirklich bemühte. Das Erste, worum Warren sich dabei kümmern musste, war Kurts Gitarre – sie mochte wohl gut genug sein, um sie in der Schule herumzuzeigen, aber zum Spielen taugte sie kaum. Warren besorgte für Kurt eine Ibanez für einhundertfünfundzwanzig Dollar. Der Unterricht selbst kostete fünf Dollar die halbe Stunde. Wie alle seine Schüler fragte Warren Kurt, welche Songs der denn gern lernen würde. „‚Stairway To Heaven‘“, antwortete Kurt. Eine krude Version von „Louie, Louie“ hatte er bereits drauf. Die beiden erarbeiteten sich also „Stairway To Heaven“, dann ging es weiter mit AC/DCs „Back In Black“. Der Unterricht endete, als Kurts lausige Noten seinen Onkel irgendwann auf den Gedanken brachten, dass Kurt seine Nachmittage auch besser nutzen könnte.
Von seinem zweiten Highschooljahr absolvierte Kurt noch zwei Monate in Montesano, dann wechselte er an die Weatherwax High in Aberdeen. Es war die Schule, an der auch seine Eltern ihren Abschluss gemacht hatten, aber trotz dieser Wurzeln und der Nähe zum Haus seiner Mutter war er dort ein Außenseiter. Die 1906 erbaute Weatherwax High School erstreckte sich über drei Blocks und umfasste fünf separate Gebäude; in Kurts Jahrgang waren dreihundert Schüler, dreimal so viele wie in Montesano. In Aberdeen fand Kurt sich an einer Schule mit vier Fraktionen: Kiffer, Sportler, Preppies und Streber – und er passte in keine davon. „In Aberdeen gab’s lauter Cliquen“, bemerkte Rick Gates, ein anderer Junge, der nach Weatherwax übergewechselt war. „Keiner von uns kannte dort wirklich jemanden. Obwohl Aberdeen im Vergleich zu Seattle ein Provinzkaff war, war es von Monte aus ein ziemlicher Schritt. Wir kamen nie so recht dahinter, wo wir reinpassten.“ Die Highschool im zweiten Jahr zu wechseln wäre schon für die meisten angepassten Teenager problematisch gewesen, für Kurt war es eine Tortur.
War er in Monte noch beliebt gewesen – immerhin war er Sportler und ging seiner Izod-Hemden wegen als Preppy durch –, so war er hier in Aberdeen ein Außenseiter. Er hielt den Kontakt zu seinen Freunden in Monte aufrecht, aber obwohl er sie fast jedes Wochenende traf, fühlte er sich einsamer denn je. Sein Talent