Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
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Etwas Gutes hatte Weatherwax immerhin, und das war der Kunstunterricht, ein Gebiet, auf dem Kurt weiterhin Beachtliches leistete. Sein Lehrer Bob Hunter hielt ihn für einen außergewöhnlichen Schüler: „Er hatte Talent fürs Zeichnen, gepaart mit viel Fantasie.“ Hunter erlaubte seinen Schülern, während des Unterrichts Radio zu hören, da er selbst Maler und Musiker war, und ermutigte seine Schüler, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Für Kurt war er der ideale Lehrer, und wie schon Mr. Kanno vor ihm erwies er sich als eins der wenigen erwachsenen Vorbilder, zu denen der Junge aufsehen konnte.
In diesem ersten Jahr in Weatherwax belegte Kurt die Kurse für Werbegrafik und Grundlagen der Kunst, die nacheinander in der fünften und sechsten Stunde stattfanden. Diese beiden Fünfzig-Minuten-Stunden gleich nach der Mittagspause waren die einzigen, in die er auch tatsächlich jeden Tag ging. Sein Talent beeindruckte Hunter und schockte seine Klassenkameraden zuweilen richtiggehend. Für eine Karikatur-Aufgabe zeichnete Kurt Michael Jackson, eine behandschuhte Hand in der Luft, die andere im Schritt. In einer anderen Stunde sollten die Schüler einen Gegenstand in seiner Entwicklung zeigen – Kurt zeichnete die Entwicklung einer Samenzelle zum Embryo. Seine Fertigkeit mit dem Zeichenstift war mustergültig, aber es war seine verkorkste Fantasie, mit der er die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler gewann. „Das mit dem Sperma hat uns alle geschockt“, erinnerte sich die Klassenkameradin Theresa Van Camp. „Er tickte geistig einfach anders als wir. Die Leute fingen an, über ihn zu reden, alle überlegten: Was geht in dem wohl vor?“ Als Hunter Kurt erklärte, dass man die Michael-Jackson-Karikatur womöglich nicht auf dem Flur der Schule würde aushängen können, zeichnete dieser stattdessen ein wenig schmeichelhaftes Porträt von Ronald Reagan mit einem faltigen Rosinengesicht.
Kurt hatte schon immer wie ein Besessener gezeichnet, jetzt jedoch, unter Hunters Zuspruch, begann er sich selbst als Künstler zu sehen. Seine Skizzen und Kritzeleien wurden Teil seiner Ausbildung. Er war ein außerordentlich geschickter Cartoonist, und über dieses Medium kam er auf die Kunst des Erzählens. Ein Cartoon, von dem er in dieser Zeit immer wieder Fortsetzungen zeichnete, waren die Abenteuer von Jimmy, the Prairie Belt Sausage Boy, benannt nach einer Fleischkonserve. Diese Geschichten dokumentierten die schmerzliche Kindheit eines Jungen namens Jimmy – ein kaum verschleierter Kurt –, der unter seinen strengen Eltern zu leiden hatte. Eine der kolorierten Bildserien erzählte – und das nicht etwa durch die Blume – die Geschichte von Kurts Konflikten mit seinem Vater. Im ersten Bild liest der Vater Jimmy gerade die Leviten: „Das Öl ist ja völlig verdreckt! Man riecht ja das Benzin drin. Gib mir mal den Neunerschlüssel, du kleiner Mistkäfer. Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst, hältst du dich gefälligst an meine Regeln, und damit ist es mir ernst: Ehrlichkeit, Loyalität, Ehre, Tapferkeit, Disziplin, Gott und Vaterland haben Amerika zur Nummer eins gemacht.“ In einem anderen Bild schreit eine Mutter: „Ich schenke dir einen Sohn, aber deine Tochter treib ich ab. Um sieben Elternabend, Töpferkurs um halb drei, Bœuf Stroganoff, um halb vier den Hund zum Tierarzt, die Wäsche, ja, ja, mmmh, Schatz, in den Arsch tut’s besonders gut, mmm. Ich liebe dich.“
Es ist unklar, ob die Mutter in dem Comic Jenny oder Wendy sein soll, jedenfalls bedeutete für Kurt die Entscheidung, nach Weatherwax zu wechseln, dass er wieder bei seiner Mutter in der East First Street einzog. Das Haus mit der Nummer 1210 kam einem festen Zuhause am nächsten, da sein Zimmer im Obergeschoss nicht angerührt worden war und fast wie ein Schrein zur Erinnerung an die alten Tage wirkte, in denen die kleine Familie noch intakt gewesen war. Er hatte dort hin und wieder Wochenenden verbracht, hatte die Wände weiter mit Rockpostern geschmückt, von denen mittlerweile viele selbst gemalt waren. Natürlich war das Beste in dem Zimmer – wie in seinem Leben überhaupt – die Gitarre. Bei Wendy zuhause war weniger los als bei den Leuten, bei denen er in diesen Jahren sonst so wohnte, und er konnte entsprechend ungestört üben. Die Verhältnisse im Haus hatten sich freilich nur geringfügig gebessert. Kurts Mutter hatte es zwar endlich geschafft, sich von Frank Franich zu befreien, aber Mutter und Sohn stritten sich nach wie vor.
Wendy hatte sich verändert, sie war nicht mehr die Mama von vor sechs Jahren. Sie war jetzt fünfunddreißig, ging aber mit jüngeren Männern und machte eine Phase durch, die man nur als die Art Midlifecrisis beschreiben kann, wie man sie sonst eher mit kürzlich geschiedenen Männern assoziiert. Sie trank viel und war Stammgast in vielen Bars von Aberdeen – mit ein Hauptgrund, weshalb Kurt nicht sofort bei ihr untergebracht worden war, nachdem er bei Don ausgezogen war. In diesem Jahr hatte sie eine lockere Beziehung mit dem zweiundzwanzigjährigen Mike Medak am Laufen. Während der Zeit ihrer Bekanntschaft sagte sie Medak noch nicht einmal, dass sie Kinder hatte; in der Regel gingen sie zu ihm nachhause, erst nach ein paar Monaten lernte er ihre Kinder kennen. „Ich hatte den Eindruck, sie sei allein stehend“, erinnerte sich Medak. „Es war nicht so, dass wir Freitagabend herumstanden und auf den Babysitter warten mussten – es war einfach, als hätte sie keine Kinder.“ Seine Beziehung zu Wendy unterschied sich nicht unbedingt von der Beziehung mit einer Gleichaltrigen. „Wir gingen in die Kneipe oder zum Tanzen. Und dann machten wir einen drauf.“ Wendy jammerte darüber, wie Franich ihr den Arm gebrochen hatte und wie schlecht es ihr finanziell ging – und darüber, dass Don Distanz hielt. Eine der wenigen Geschichten, die sie von Kurt erzählte, war die, wie er als Fünfjähriger einmal mit einer Erektion ins Wohnzimmer gekommen war, als Don gerade mit einigen Freunden beisammensaß. Don war das so peinlich gewesen, dass er seinen Sohn aus dem Zimmer trug. Der Vorfall ging in die Familiengeschichte ein; Wendy musste noch immer lachen, wenn sie die Anekdote erzählte.
Als Zweiundzwanzigjähriger, der etwas mit einer Fünfunddreißigjährigen hatte, ging es Medak hauptsächlich um Sex; für ihn war Wendy eine attraktive ältere Frau, eine ideale Partnerin, wenn einem nicht nach einer festen Beziehung war. Selbst der fünfzehnjährige Kurt spürte dies und war mit seinem Urteil schnell bei der Hand. Er diskutierte die Affären seiner Mutter mit seinen Freunden, und seine Kommentare fielen sehr hart aus. Über die psychologischen Probleme, die er dabei gehabt haben musste, seine Mutter mit einem Liebhaber zu sehen, der gerade mal sieben Jahre älter war als er selbst, sprachen sie dabei freilich nicht. „Er sagte immer, er hasse seine Mutter, dass sie seiner Ansicht nach eine Schlampe sei“, erinnerte sich John Fields. „Er konnte der Art, wie sie lebte, nichts abgewinnen. Er mochte sie überhaupt nicht mehr und sprach immer davon, einfach abzuhauen. Wenn sie zuhause war, verdrückte Kurt sich normalerweise, weil sie ihn ständig nur anschrie.“
Wendys Geschwister erinnern sich, dass sie sich wegen ihres Alkoholkonsums Sorgen machten, aber da man in der Familie grundsätzlich niemanden direkt mit etwas konfrontierte, wurde das Thema letztlich kaum diskutiert.
Für Kurt war die Attraktivität seiner Mutter ein zusätzliches Problem, da alle seine Freunde in sie verknallt waren, und wenn sie sich mal wieder hinter dem Haus im Bikini sonnte, spähten sie durch den Zaun. Wenn Freunde bei ihm übernachteten, witzelten sie, sie würden auch jederzeit bei Wendy schlafen, falls in Kurts Zimmer kein Platz für sie sein sollte. Kurt schlug zu, wenn ein solcher Scherz gemacht wurde, und er musste eine Menge Schläge verteilen. Wendy schien den halbwüchsigen Jungs doppelt attraktiv, weil sie ihnen gelegentlich Alkohol kaufte. „Kurts Mom hat uns ein paar Mal Sprit mitgebracht“, erinnert sich Mike Bartlett. „Unter der Bedingung, dass wir ihn im Haus tranken.“ Einmal spendierte Wendy den Jungs Bier und ließ sie ihr Video von Pink Floyds Film The Wall sehen. „Einmal, als ein paar von uns über Nacht blieben“, erzählt Trevor Briggs, „haben wir seine Mutter überredet, uns eine Flasche Tequila zu kaufen. Wir haben uns betrunken und sind dann spazieren gegangen. Als wir zurückkamen, knutschte sie auf dem Sofa mit einem Typ rum.“ Kurts Reaktion war typisch für einen Fünfzehnjährigen im Suff: „Gib’s auf, Mann!“, rief er dem Lover seiner Mutter zu. „Die lässt dich ja doch nicht drüber. Geh lieber nachhause!“ Es war ein Witz, aber an Kurts Sehnsucht nach einer normalen Familie war