Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross страница 17
Seine einzige Möglichkeit schien dieses „halb zurückgebliebene Mädchen“. Eines Tages folgten Trevor Briggs, John Fields und Kurt ihr nachhause und klauten ihrem Vater den Schnaps. Sie hatten das schon oft gemacht, aber diesmal blieb Kurt noch, nachdem seine Freunde wieder gegangen waren. Er setzte sich auf den Schoß des Mädchens und berührte ihre Brüste. Die beiden gingen in ihr Zimmer, und sie zog sich vor ihm aus, aber er war angewidert, sowohl von sich selbst als auch von ihr. „Ich versuchte sie zu ficken, wusste aber nicht, wie“, schrieb er. „Ich ekelte mich vor ihr, wie ihre Vagina roch und wie sie nach Schweiß stank, also ging ich.“ Obwohl Kurt den Rückzug angetreten hatte, sollte er sich wegen dieses Vorfalls für den Rest seines Lebens schämen. Er hasste sich dafür, das Mädchen ausgenutzt zu haben, auf der anderen Seite hasste er sich dafür, die Geschichte nicht bis zum Verkehr durchgezogen zu haben – eine fast noch größere Schande für einen noch jungfräulichen Jungen von sechzehn Jahren. Der Vater des Mädchens beschwerte sich bei der Schule, seine Tochter sei sexuell belästigt worden, und Kurt wurde als Verdächtiger genannt. Wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, verdankte er es nur einem Zufall, dass er nicht vor dem Jugendrichter landete: „Sie zeigten ihr ein Jahrbuch, damit sie den betreffenden Jungen identifizierte, was natürlich nicht ging, weil ich dieses Jahr nicht zum Gruppenfoto gegangen war.“ Er behauptet darüber hinaus, man habe ihn in Montesano auf die Wache zitiert und vernommen, er sei der Verurteilung aber entgangen, weil das Mädchen über achtzehn und vom rechtlichen Standpunkt aus auch „nicht geistig zurückgeblieben“ gewesen sei.
Mit seinem dritten Highschooljahr an der Weatherwax High in Aberdeen begann Kurt ein romantisches Verhältnis zu der fünfzehnjährigen Jackie Hagara. Sie wohnte zwei Blocks von ihm entfernt, und er richtete sich zeitlich so ein, dass sie zusammen zur Schule gehen konnten. Er hinkte in Mathematik derart hinterher, dass er sich gezwungen sah, sich noch einmal in den Mathe-Unterricht des ersten Jahrgangs zu setzen, und da hatten sich die beiden kennen gelernt. Die meisten der Kinder in dieser Klasse fanden Kurt merkwürdig, wie er da als älterer Schüler bei ihnen nachsitzen musste, aber Jackie mochte sein Lächeln. Eines Tages nach der Schule zeigte er ihr eine seiner Zeichnungen, einen Rockstar auf einer einsamen Insel. Der Mann hatte eine Les Paul umgeschnallt und das Kabel seines Marshall-Verstärkers in eine Palme gestöpselt. Für den sechzehnjährigen Kurt war das eine Vision vom Paradies.
Jackie sagte, ihr gefiele die Zeichnung. Zwei Tage später machte er ihr ein Geschenk: Er hatte dasselbe Bild noch einmal mit einem Airbrush und in Postergröße nachgezeichnet. „Hier, ist für dich“, sagte er und blickte dabei zu Boden. „Für mich?“, fragte sie. „Ich würd gern mal mit dir ausgehen“, erklärte er. Kurt war nur leicht geknickt, als sie ihm sagte, sie habe schon einen Freund. Sie gingen weiter zusammen zur Schule, hielten gelegentlich sogar Händchen dabei, und eines Nachmittags, vor ihrem Haus, zog er sie schließlich an sich und gab ihr einen Kuss. „Ich fand ihn so süß“, sagte Vance später.
Während dieses entscheidenden dritten Highschooljahrs wandelte sich Kurt auch äußerlich von einem, der allgemein als „süß“ beschrieben wurde, hin zu einem Erscheinungsbild, das einige seiner Weatherwax-Klassenkameraden als „unheimlich“ bezeichneten. Er ließ sich die Haare wachsen und wusch sie kaum noch. Seine Izod-Shirts und die Rugbypullis waren verschwunden, er trug nur noch selbst designte T-Shirts, auf die er die Namen von Punkbands geschrieben hatte. Auf einem, das er oft trug, stand „Organized Confusion“, ein Slogan, den sich Kurt als Name für seine erste Band vorstellte. Obendrüber trug er einen Trenchcoat, und zwar das ganze Jahr über, an verregneten Wintertagen ebenso wie im Hochsommer bei dreiunddreißig Grad. In diesem Herbst traf ihn Andrea Vance, seine Freundin aus Monte vom Sommer, zufällig auf einer Party und erkannte ihn zunächst gar nicht. „Er hatte seinen schwarzen Trenchcoat an, hohe Tennisschuhe, und sein Haar war dunkelrot gefärbt“, erinnerte sie sich. „Er sah völlig anders aus.“
Kurts Freundeskreis verlagerte sich langsam von den Kumpeln in Monte zu denen in Aberdeen, aber in beiden Cliquen ging es in der Hauptsache darum, sich auf die eine oder andere Weise die Birne zuzuknallen. Wenn sich nicht gerade eine elterliche Hausbar plündern ließ, heuerten sie einen der unzähligen Penner von Aberdeen an, ihnen Bier zu kaufen. Kurt, Jesse Reed, Greg Hokanson sowie Eric und Steve Shillinger kamen mit einem von ihnen regelrecht ins Geschäft, einem Original, dem sie den Spitznamen The Fat Man gaben, ein hoffnungsloser Alkoholiker, der mit seinem zurückgebliebenen Sohn Bobby im Morck Hotel, einer heruntergekommenen Pension, lebte. Der Fat Man war bereit, sie mit Alkohol zu versorgen, solange sie ihn dafür bezahlten – und solange sie ihm zum Laden halfen. Das war ein mühsames Unterfangen, das sich in der Praxis oft wie ein Buster-Keaton-Sketch ausnahm und den ganzen Tag dauern konnte. „Zuerst“, erzählte Jesse Reed, „mussten wir mal mit einem Einkaufswagen zum Morck. Dann ging’s rauf in sein Zimmer, wo wir ihn zum Aufstehen bringen mussten. Er lag da in seiner verkrusteten Unterwäsche rum, die zum Himmel stank, und alles war voller Fliegen, es war grauenhaft. Dann mussten wir ihm die Treppe runterhelfen, und der Typ wog wohl an die fünf Zentner! Er war viel zu fett, um zur Spirituosenhandlung laufen zu können, also hievten wir ihn auf den Wagen und schoben ihn hin. Wenn wir bloß Bier wollten, schoben wir ihn zum nächsten Lebensmittelladen, der Gott sei Dank näher war. Alles, was er dafür verlangte, war ein Liter vom billigsten Malzwhiskey.“
Der Fat Man und Bobby, die nun wirklich das merkwürdigste Paar waren, das man sich vorstellen kann, wurden, ohne es zu wissen, zum Thema von Kurts ersten Geschichten. Er schrieb Kurzgeschichten über die beiden, verarbeitete ihre Abenteuer zu imaginären Songs und machte Zeichnungen von ihnen in sein Tagebuch. Seine Bleistiftzeichnungen von Fat Man sahen aus wie Ignaz J. Reilly, der Antiheld aus John Kennedy Tooles Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten. Kurt hatte Spaß dran, Bobbys piepsige Stimme zu imitieren, und erntete damit bei seinen Freunden schallendes Gelächter. Seine Beziehung zum Fat Man und zu Bobby war jedoch nicht ohne eine gewisse Zuneigung; er hatte durchaus Mitgefühl für die beiden und ihre scheinbar hoffnungslose Situation. Zu Weihnachten kaufte Kurt dem Fat Man bei Goodwill einen gebrauchten Toaster und ein John-Denver-Album aus zweiter Hand. „Für mich?“, fragte der Fat Man fassungslos, als er die Geschenke in seinen Pranken hielt. Dann begann er zu weinen. Die nächsten Jahre erzählte er in ganz Aberdeen herum, was für ein prima Kerl dieser Kurt Cobain doch sei. Diese Episode ist ein kleines Beispiel dafür, wie zuweilen selbst in Kurts Schattenwelt Liebenswürdigkeit gedieh.
Vom Fat Man regelmäßig mit Nachschub versorgt, soff Kurt in diesem Frühjahr immer mehr Alkohol, was nicht zuletzt den Konflikt mit seiner Mutter verschärfte. Ihre Auseinandersetzungen waren umso schlimmer, wenn Kurt bekifft oder auf LSD war, was ihm fast schon zur Gewohnheit geworden war. Greg Hokanson erinnerte sich, wie er mit Jesse Reed zu Kurt nachhause kam, wo sie Wendy dann eine Stunde auf Kurt einschreien hörten, der derart auf Trip war, dass ihr Gezeter gar nicht zu ihm durchdrang. „Wendy war furchtbar zu ihm“, sagte Hokanson. „Er hat sie gehasst.“ Sobald es ihnen irgendwie möglich war, verdrückten sie sich und kletterten auf den Wasserturm am Think of Me Hill. Jesse und Hokanson stiegen die Leiter bis ganz nach oben, aber Kurt konnte auf halber Strecke nicht mehr weiter. „Er hatte Angst“, erinnerte sich Hokanson. Kurt schaffte es nie bis ganz hinauf.
Trevor Briggs erinnerte sich an einen Besuch bei den Cobains, bei dem sich die Schlacht zwischen Kurt und Wendy über den ganzen Abend hinzog: „Ich glaube, sie war angetrunken, jedenfalls kam sie irgendwann rauf in sein Zimmer. Sie wollte einen draufmachen und mit uns Party machen, was ihm gewaltig stank, er wurde sauer. Und sie: ‚Kurt, wenn du nicht aufpasst, dann sag ich deinen Freunden hier, was du mir erzählt hast.‘ Er schrie zurück: ‚Wovon redest du eigentlich?‘ Irgendwann ging sie dann wieder. Ich fragte ihn, was sie gemeint hatte. Er sagte: ‚Na ja, ich hab mal eine Bemerkung gemacht von wegen bloß weil einem Typ ein paar Haare auf dem Sack wachsen, heißt das noch lange nicht, dass er ein Mann ist oder erwachsen.‘“ Dieses Thema, Haare am Hodensack, war für den jungen Kurt eine Angelegenheit von höchster Peinlichkeit, weil bei ihm die Schambehaarung erst viel später zu wachsen begann als bei den meisten anderen Jungs. Wie besessen inspizierte er jeden Tag sein kahles Skrotum nach sprießenden Haaren, alle seine Freunde waren ihm weit voraus. Schamhaare