Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

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Der Himmel über Nirvana - Charles R Cross

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Weihnachtsfeier bei den Fraden­burgs fotografierte ihn seine Tante damit. Mit seinem nach wie vor kurzen Haar und dem knabenhaften Äußeren schien er jünger als die fünfzehn Jahre, die er tatsächlich war. Tante Mari schenkte ihm das Album Tadpoles von der Bonzo Dog Band. Der Blödelsong „Hunting Tigers Out In Indiah“ wurde zu Kurts Lieblingslied dieses Winters, er brachte es sich auf der Gitarre bei. Seine Tante Mari war mittlerweile nach Seattle gezogen, und Kurt hatte sie direkt vor Weih­nachten dort besucht, um sich nach Plattenläden umzusehen. Eines der Alben auf Kurts Wunschliste war der Soundtrack zu der Fernsehserie H. R. Pufnstuf, einer Live-Action-Comedy-Serie aus den Jahren 1969 bis 1977 mit vielen musikalischen Einlagen, die er liebte. Von einem anderen Album auf der Liste, Hi-Infidelity von REO Speedwagon, hatte Mari noch nie gehört.

      Im Februar wurde er sechzehn und bestand die Fahrprüfung. Das größte Ereignis für Kurt in jenem Frühjahr stellte den Anfängerführerschein jedoch in den Schatten – es war für ihn ein Meilenstein, über den er den Rest seiner Jugendzeit sprach, um ihn als Erwachsener dann nie mehr zu erwähnen. Am 29. März 1983 fuhr Kurt nach Seattle, um sich im Center Coliseum Sammy Hagar und Quarterflash anzusehen – sein erstes Konzert. Als großer Fan von KISW, einer Radiostation in Seattle, die besonders nachts klar zu empfangen war, hatte Kurt Hagars Hardrock ins Herz geschlossen, und auch Quarterflashs Hit „Harden My Heart“ gefiel ihm. Zu dem Konzert ging er zusammen mit Darrin Neathery, dessen ältere Schwester die beiden chauffierte. „Es war eine Riesensache für uns, weil es unser erstes Konzert war“, weiß Neathery zu erzählen. „Irgendwie waren wir zu einem Sixpack Schmidt gekommen. Auf der Hinfahrt saßen Kurt und ich auf dem Rücksitz und hatten einen Mordsspaß. Vom Konzert weiß ich dann noch, dass wir nach Quarterflash irgendwo weit hinten standen, beim Schaltpult für die Scheinwerfer. Wir haben bloß so gestaunt: die Scheinwerfer, die Produktion. Und irgendwann kam eine Whiskeyflasche aus den Rängen geflogen und zerplatzte direkt neben uns auf dem Boden. Wir hätten uns beinahe in die Hosen geschissen. Also haben wir uns verdrückt und uns einen Platz im Gebälk gesucht, von wo aus wir uns dann Sammy ansahen. Ich habe mir ein T-Shirt gekauft, Kurt auch.“

      Kurt sollte später die Geschichte umschreiben und behaupten, die Punkband Black Flag sei sein erstes Konzert gewesen. Aber jeder seiner Klassenkame­raden in Weatherwax erinnerte sich noch genau, wie der sechzehnjährige Kurt am nächsten Tag mit einem übergroßen Sammy-Hagar-T-Shirt in die Schule kam und erzählte wie ein Pilger nach einem Besuch im Heiligen Land.

      Gegen Ende des Schuljahrs 1983 entdeckte Kurt Punk. Das Sammy-Hagar-T-Shirt landete in der untersten Schublade und ward nie wieder gesehen. In diesem Sommer sah er zum ersten Mal die Melvins, und dieses Ereignis veränderte sein Leben. In sein Tagebuch schrieb er:

      Im Sommer 1983 … erinnere ich mich, dass ich in Montesano in einer Washington-Thriftway-Supermarktfiliale rumhing, als mir dieser kurzhaarige Angestellte, ein Boxboy, der ein bisschen wie der Typ von Air Supply aussah, einen Flyer in die Hand drückte. „The Them Festival. Morgen Abend auf dem Parkplatz hinter Thriftway. Free Live Rock Music.“ Monte war keine Stadt, in der man Livekonzerte von Rock-Acts gewöhnt war, es war ein Dorf, die Bevölkerung bestand aus ein paar tausend Holzarbeitern und ihren unterwürfigen Frauen. Ich fuhr mit einigen von meinen Kifferkumpeln im Van hin. Und da stand dieser Air-Supply-Boxboy mit einer Les Paul mit einer Anzeige für Kool-Zigaretten aus einem Magazin draufge­klebt. Sie spielten schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte, und mit mehr Energie, als meine Iron-Maiden-Platten leisten konnten. Das war genau das, wonach ich gesucht hatte. Ah, Punkrock. Die anderen Kiffer langweilten sich und riefen: „Spielt was von Def Leppard.“ Gott, ich hasste diese Arschgeigen mehr denn je. Der Parkplatz hinter einem Lebensmittelmarkt war das Gelobte Land, in dem mein Leben einen Sinn bekam.“

      Den Satz „Das war genau das, wonach ich gesucht hatte“ hatte Kurt zweimal unterstrichen.

      Das Konzert war seine Epiphanie – der Augenblick, in dem seine kleine Welt sich plötzlich öffnete. Der „Air-Supply-Boxboy“ war Roger „Buzz“ Osborne, den Kurt als zurückhaltenden älteren Jungen von der Montesano High in Erinnerung hatte. Dass Kurt Buzz nach dem Auftritt gratulieren kam, schmeichelte Osborne, und bald wurde Buzz zu einer Art Mentor, indem er Kurt Punkplatten, ein Buch über die Sex Pistols und einige abgegriffene Ausgaben des Creem-Magazins lieh. Aber auch wenn sich das in Kurts Tagebuch so anhören mag, es war keine totale Konversion – Kurt ging sich trotzdem im Sommer noch Judas Priest im Tacoma Dome anschauen. Wie die meisten anderen Kids in Aberdeen mischte er seinen Punk mit Heavy Metal, auch wenn er das nicht gerade Buzz auf die Nase binden wollte und auf jeden Fall ein für alle Mal auf Punk-T-Shirts umstellte.

      The Melvins – spöttisch benannt nach einem anderen Angestellten bei Thriftway – gab es seit einem Jahr. Buzz behauptete, sich das Gitarrenspielen anhand der ersten beiden Clash-LPs selbst beigebracht zu haben. 1983 hatten die Melvins noch keine wirkliche Fangemeinde, im Gegenteil, die meisten Metalheads in Grays Harbor machten sich über sie lustig und buhten sie aus. Trotzdem fand sich regelmäßig ein Dutzend empfänglicher Jungs im Übungsraum hinter Drummer Dale Crovers Haus in der West Second Street 609 in Aberdeen ein. Dieses bunte Häuflein Fans nannten sie die „Klingonen“ – „Cling-Ons“, „Klammerer“ –, ein Name, den Buzz geprägt hatte, weil sie ihn an rührige Trekkies erinnerten und an seinen Lippen hingen, wann immer er den Mund aufmachte. Buzz selbst sah mit seinem „weißen“ Afro eher wie Richard Simmons aus als der Typ von Air Supply.

      Buzz stand den „Klingonen“ mit Rat zur Seite, nahm ihnen Cassetten auf und gab den Sokrates von Montesano, den Elder Statesman, der seinem Fähnlein von Fans salbadernd seine Ansichten über Gott und die Welt kundtat. Er entschied, wer in den Übungsraum durfte und wer nicht, und gab allen Spitznamen. Greg Hokanson wurde „Cokenson“. Jesse Reed, den Kurt auf der Weatherwax High School kennen gelernt und mit dem er sich rasch angefreundet hatte, wurde „Black Reed“ nach der Band Black Flag, obwohl er – wie alle aus der Clique – weiß war. Kurt hatte nie einen Spitznamen, jedenfalls keinen, der sich gehalten hätte. Seine Freunde zu der Zeit nannten ihn einfach „Cobain“. Dass er keinen Spitznamen hatte, hieß jedoch nicht, dass er einen besonderen Status genossen hätte. Im Gegenteil war es so, dass er keinen Spitznamen hatte, weil man der Ansicht war, ein Pinscher wie er hätte eine derartige Anerkennung schlicht nicht verdient.

      Wie Kurt selbst gehörten die Melvins geografisch sowohl nach Monte (wo Buzz bei seinen Eltern wohnte) als auch nach Aberdeen (wo Crovers Übungsraum war). Der Bassist der Melvins war Matt Lukin, ebenfalls aus Monte, den Kurt vom Ringen und von der Baseball Little League her kannte; auch mit ihm freundete er sich schnell an. Wenn Kurt nach Monte kam, schaute er eher bei Buzz oder Lukin vorbei als bei seinem Vater.

      Hinter einer speziellen Fahrt nach Monte steckte jedoch etwas ganz anderes als seine neue Liebe zum Punk – diesmal ging es um ein Mädchen. Andrea Vance war die kleine Schwester von Kurts Freund Darrin Neathery. Eines Nachmittags war sie zum Babysitten in Monte, als Kurt unerwartet auftauchte. „Er war richtig lieb“, erinnerte sie sich. „Er hatte tolle blaue Augen und ein umwerfendes Lächeln. Sein Haar war richtig hübsch und ganz weich. Er trug es damals mittellang. Gesagt hat er nicht viel, und wenn, dann leise und freundlich.“ Sie sahen sich zusammen im Fernsehen Drei Mädchen und drei Jungen – The Brady Bunch an, und Kurt spielte mit den Kindern. Pünktlich auf die Minute war er am nächs­ten Tag wieder da, und Andrea belohnte ihn mit einem Kuss. Eine ganze Woche lang kam er jeden Tag, aber über etwas Geknutsche ging ihr Techtelmechtel nicht hinaus. „Er war wirklich lieb und sehr respektvoll“, erinnerte sich Vance. „Ich hatte nicht den Eindruck, er sei eines dieser Hormone auf zwei Beinen.“

      Trotzdem, unter der Oberfläche tobten die Hormone. Im selben Sommer hatte Kurt seine „erste sexuelle Begegnung“, wie er es später nannte, und zwar mit einem entwicklungsbehinderten Mädchen. Wie er in seinem Tagebuch berichtet, bemühte er sich nur um sie, weil ihn sein Leben so deprimierte, dass er an Selbstmord dachte. „Dieser Monat war der Höhepunkt des geistigen Missbrauchs durch meine Mutter“, schrieb er. „Wie sich herausstellte, half Pot mir nicht mehr so recht aus meinem Elend, und ich hatte richtig Spaß an kleinen rebellischen Akten wie Alkohol zu klauen

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