You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson
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„Du musst aus dem Bauch heraus singen“, erklärte mir unser Gesangslehrer, Choreograph und Manager in Personalunion. „Stell dir einen Ballon vor, der sich ausdehnt. So ist das beim Einatmen. Beim Ausatmen singst du, da hältst und kontrollierst du die Töne. Denk an einen Dudelsack.“ Noch viele Jahre verglich ich meine Lungen innerlich mit Ballons und Dudelsäcken, denn so – in den Bauch hinein atmend – habe ich singen gelernt.
„Bevor ihr euch mit dem Text beschäftigt, müsst ihr erst einmal die Melodie beherrschen. Ihr müsst wissen, wo die Akkordwechsel liegen, und die Intonation meistern.“ Das war die wichtigste Lektion, die wir in der Jackson Street 2300 bekamen: Die Melodie liegt darin, die eigene Stimme zu begreifen, und Melodie ist alles. „Ihr solltet in der Lage sein, auch ohne Begleitung ein Lied zu singen.“ Auch unser „Ohr“ wurde so trainiert.
Wir wussten, dass wir allmählich auf dem richtigen Weg waren, als wir nicht mehr auf Jackies Füße starrten oder im Kopf vorzählten. Irgendwann ging es wie von selbst. Auf der Bühne zu stehen fühlte sich an wie das Natürlichste der Welt.
Mama Martha war eine wichtige Konstante in unserer Kindheit. Sie wohnte etwa zwanzig Minuten entfernt in Hammond, East Chicago, und kam uns oft besuchen, stets mit einem Rührkuchen im Gepäck. Als Erstes bekamen wir alle einen dicken Schmatz aufgedrückt, die Art von Kuss, die auf der Wange dieses laute Lippengeräusch macht. Sie war eine Oma wie aus dem Bilderbuch.
Nach endlosen Proben als Trio war Joseph ganz wild darauf, seiner Schwiegermutter zu zeigen, was er in aller Bescheidenheit geschaffen hatte. Was wir jedoch nicht wussten, das war, dass auch Michael darauf brannte, bei dem ganzen Rummel mitzumachen. Vor den Augen unseres vorwiegend weiblichen Publikums – bestehend aus Mutter, Mama, Rebbie und La Toya mit dem zweijährigen Randy – stellten Jackie, Tito und ich uns also in Positur, bestrebt, unserem Vater Ehre zu machen.
Michael saß wie immer mit seinen Bongos auf dem Boden. Als wir das Intro des ersten Songs schmetterten – welcher das war, habe ich vergessen –, fingen die Frauen an, den Rhythmus mitzuklatschen, und Michael stand auf. Und als er dann merkte, wie der Song langsam Fahrt aufnahm, fing er spontan an mitzusingen und übernahm eine eigene Harmonie. Er lenkte mich ab, und deswegen gab ich ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle sich verkrümeln und die Klappe halten. Unserer Meinung nach machte er uns unseren großen Moment kaputt.
Tatsächlich schaltete Joseph den Plattenspieler ab.
„Er macht hier gar nicht mit!“, protestierte ich. Aber Mama Martha verteidigte ihn sofort: „Lass ihn in Ruhe. Soll der Junge doch singen, wenn er will! Willst du singen, Michael?“
Michaels Gesicht hellte sich auf. Wir machten ihm Platz, damit er sich ein wenig in Omas Lächeln sonnen konnte, und Joseph setzte die Nadel brummend wieder auf die Platte. Unser kleiner Bruder begann zu singen. Und was da aus seinem Mund kam, das war kein „Jingle Bells“ bei Weihnachtsbeleuchtung. Es war hundert Mal besser, weil er nun offiziell zum Singen aufgefordert worden war und nicht verstohlen und leise ein verbotenes Weihnachtslied summte. Michael trat vor, zwar ein bisschen schüchtern, aber doch selbstbewusst, und er wusste genau, was er tun musste: Er spielte das Mikrofon, federte über die Bühne und sang wunderschön, und wir standen ganz baff da: „Verdammt, das ist ja super!“
Ich hatte keine Ahnung, woher diese Stimme kam.
„Vom Himmel“, sagte Mutter.
Josephs völlig perplexes Gesicht war herrlich anzusehen.
Michael hatte sich, während er uns zusah, alles genauestens eingeprägt. Und nun kam sein bisher verborgenes Talent zum Vorschein.
Am Ende bekam er einen riesigen Applaus von allen und fühlte sich so groß wie seine Brüder, was den Kleineren ja bekanntermaßen immer besonders wichtig ist.
Mama Martha und Mutter nickten sich mit wissendem Blick zu, als wollten sie sagen: „Wir haben doch gewusst, dass so etwas in ihm steckt.“
Soweit ich mich erinnere, holte Joseph ihn trotzdem nicht sofort in unsere Gruppe, weil es wegen seines Alters Bedenken gab: Er war am 29. August 1963 gerade erst fünf geworden. Aber ein paar Wochen später spielte das keine Rolle mehr, denn Michael war der Erste von uns, der live vor Publikum auftrat, bei einer Gala der Eltern-Lehrer-Vereinigung in der Garnett-Vorschule, die er seit kurzer Zeit besuchte.
In der Turnhalle hatte man aus rechteckigen grauen Blöcken eine Bühne errichtet, und davor standen jede Menge Klappstühle aus Holz. Offenbar war die gesamte Gemeinde erschienen, um sich die Auftritte der Kinder aus dem Viertel anzusehen. Ich saß bei Mutter und Papa Samuel, und wir wussten, dass Michaels Klasse etwas vorsingen würde; Michael hatte erzählt, dass er dabei ein Solo sang. Es war uns auch klar, dass es für ihn eine ziemlich große Sache war, denn morgens war er in einem blauen, bis zum Kragen zugeknöpften Hemd und seinen guten Hosen aus dem Haus gegangen, nicht wie sonst in T-Shirt und Jeans. Er hatte sich für das Lied „Climb Ev’ry Mountain“ aus dem Musical The Sound Of Music von Rodgers und Hammerstein entschieden (dessen Kinoversion später zu seinen absoluten Lieblingsfilmen zählen sollte).
Insgesamt hatte Michael um sein Solo wenig Aufhebens gemacht, und ich hatte auch nicht gehört, dass er dafür übte, aber das zeugte vielleicht nur von dem großen Selbstbewusstsein, das er hier erstmals unter Beweis stellte: Er bereitete sich innerlich vor und trat erst, als alles saß, an die Öffentlichkeit. Dieser Maxime blieb er Zeit seines Lebens treu.
Als er an die Reihe kam, nickte die Lehrerin, die am Klavier saß, und Michael trat vor. Mutter umklammerte die Handtasche auf ihrem Schoß, und ich fragte mich, was jetzt kommen würde. Würde ich vor Peinlichkeit im Boden versinken oder damit angeben wollen, dass er mein Bruder war?
Die Antwort auf diese Frage stand nach kurzer Zeit fest.
Michael machte alles genau so, wie unser Vater es uns beigebracht hatte – und dann kam der unerwartete, große „Wow“-Moment, als er den hohen Ton am Schluss so hinausschmetterte, dass er durch die ganze Halle schallte. Es war, als sei Gott kurz zu ihm heruntergestiegen und habe gesagt: „Kleiner, ich werde dir eine Stimme geben, die nicht von dieser Welt ist. Und jetzt benutze sie!“
Michael stand richtig unter Strom und bewegte sich auf der Bühne mit großer Sicherheit. Er folgte nicht der Vorgabe der Lehrerin, so wie es die meisten Kinder taten: Sie folgte ihm. Am meisten überraschte uns alle jedoch, dass er so hoch sang. Beim letzten Ton standen alle auf und applaudierten. Sogar die Lehrerin erhob sich vom Klavierhocker, und sie klatschte so schnell in die Hände, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Das ist mein Bruder!, dachte ich.
Mutter hatte Tränen in den Augen, und sogar Papa Samuel war gerührt.
Verdammt, Michael, du hast sogar Papa Samuel zum Weinen gebracht!
Vermutlich war das der entscheidende Moment, an dem sich Michaels Seele dafür entschied, andere unterhalten zu wollen, den Kitzel des Beifalls zu spüren und die Reaktion auf den Gesichtern zu sehen, die er hervorgerufen hatte. Und ich wusste, dass