Judengold. Erich Schütz
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Er selbst war hin- und hergerissen, meist schmerzte es einfach nur, ihren Zustand auszuhalten, dann war er froh, wenn das Handy klingelte und er irgendwohin gerufen wurde.
Er versuchte, ein bisschen Licht in den dunklen, trostlosen Schlafraum zu bringen, der ihn an schöne und liebestrunkene Stunden erinnerte: »Ich habe frische Brötchen dabei und mache uns einen Kaffee«, versuchte er das Thema zu wechseln.
Lena nickte gleichgültig. Es war ihr weder nach Brötchen noch nach Kaffee zumute.
»Einen Tee?«, versuchte er. »Du musst etwas essen«, bat er sie.
Zum zweiten Mal lächelte sie ihm zu, aß aber keinen Bissen.
Leon blieb noch eine Zeit lang, aber es kam ihm vor wie ein Absitzen. Jedes Gesprächsthema, das er anschnitt, wirkte irgendwie deplatziert. Er wollte aber über alles reden, nur nicht schon wieder über diesen Scheißkrebs. Trotzdem stand dieser immer zwischen ihnen.
Früher war für ihn jeder Kurzbesuch bei Lena in Taisersdorf wie ein unbeschwerter Urlaubstag im Ferienparadies. Hier war er weit weg von all den Alltagsproblemen. Und an Krebs hätte er eh nie gedacht. Krebs? Das war eine Krankheit, mit der sich alte Leute herumschlugen. Aber er? Und dann noch Lena Rößler? Diese unbeschwerte Powerfrau mit ihrem ansteckenden unendlichen Optimismus.
Lena Rößler war in sein Leben getreten, und sein Leben war von heute auf morgen anders. Manchmal war es ihm schon zu viel der Geigen am Liebeshimmel. Er war süchtig nach dieser Frau. Doch heute?
Er versuchte, sie aufzumuntern, und versprach, sofort nach ihrer Chemotherapie mit ihr zu verreisen. »Wenn die Steuererklärung bis dahin geschafft ist«, scherzte er und versuchte damit den Absprung einzuläuten. Noch drei unverfängliche Sätze, dann floh er mit dem unverändert flauen Gefühl in seinem Magen und ihrem traurigen Gesichtsausdruck vor seinen Augen in sein Überlinger Büro.
Zu Hause stellte er seinen alten Porsche vor der noch viel älteren Villa ab und sah Helma, seine noch ältere Vermieterin. Ihr Alter lag über dem des Porsches und der Villa zusammen. Der Porsche war jetzt 15 Jahre alt, die Villa war vor rund 80 Jahren gebaut worden, aber Helma topte alles, sie war schon 96 Jahre alt. Gemessen an seinem Porsche schien sie topfit. Nur ihr Gedächtnis zeigte Ausfallerscheinungen, und dies war noch geschmeichelt.
Senta, ihr Berner Sennenhund, kam sofort auf ihn zugelaufen, das jüngste Wesen im Haus. Ihr Schwanz wedelte, und Leon wusste, dass das Tier ihn sofort bespringen würde, auch wenn er dies hasste. Aber er musste auf dem Weg in das Haus an diesem Hund vorbei. Erst vor einem halben Jahr war er in die Anliegerwohnung eingezogen, seither war er auch schon unfreiwillig Sentas bester Freund.
Leon selbst war sofort in den morbiden Charme der schnörkellosen Villa verliebt gewesen. Vor allem hatte es ihm der Blick von seinem Arbeitszimmer direkt auf den See angetan. Ohne Lena wäre er an solch eine Wohnung nie gekommen, und Helma hätte ihn nicht einmal einen Fuß über die Schwelle setzen lassen. Der Vorteil, außer der Seesicht, war: Die Miete war günstig. Der Nachteil: Er musste den großen Garten pflegen und diesen Hund hin und wieder ausführen.
»Hallo, Leon«, lächelte Helma ihm schon von Weitem zu, »du solltest noch vor dem ersten Schnee die Rosen schneiden.«
Nicht schon wieder dieses Thema, ärgerte sich Leon, er hatte ihr nun schon zig Mal erklärt, dass es reichte, die Rosen einmal im Frühjahr, nach den stärksten Frösten, zu schneiden. Aber als er näher gekommen war und schließlich neben ihr stand, hatte sie ihre eigene Aufforderung schon wieder vergessen und fragte: »Wie geht es meiner Lena?«
Leon schaute die alte Frau lächelnd an. Sie stand ein bisschen gebeugt vor ihm, hatte schlohweiße Haare, eine gesunde rote Gesichtsfarbe, eine zierliche Goldrandbrille und freundliche, glasklare, blaue Augen. Er wusste nun nicht, woran sich Helma im Augenblick erinnerte. Als er ihr das erste Mal von Lenas Krebs erzählt hatte, war sie schockiert gewesen, hatte bitterlich geweint und gejammert: »Warum Lena, warum nicht ich? Ich bin doch langsam, weiß Gott, alt genug.«
Doch am nächsten Tag war Helma schon wieder lachend vor ihm gestanden und hatte nach dem Wohlergehen ihrer Nichte gefragt. Vorsichtig hatte er sich dann in ihr Gedächtnis getastet. Er hatte sie nach Kinderkrankheiten von Lena gefragt. Sie hatte gelacht und gesagt: »Lena, die war noch nie krank, die hat eine gesunde Robustheit, wie ich!«
Daraufhin hatte er beschlossen, diese Frau nicht immer wieder aufs Neue mit der Wahrheit zu schockieren, die sie doch immer wieder vergaß und dadurch immer wieder aufs Neue gequält wurde.
»Lena geht es gut«, lachte Leon arglos, »sie hat doch den besten Mann auf Gottes Erden erwischt.«
»Das wird sich weisen«, quittierte Helma seine Selbsteinschätzung gelassen. Leon schluckte verunsichert, beruhigte sich aber wieder.
Schnell lächelnd ging er weiter in den Hausflur, da stand Eberhardt, der Hauskater, vor seiner Wohnungstür. Doch Leon mochte weder Senta, den Hund, noch Eberhardt, den Kater, in seiner Wohnung haben, also lockte er den ebenso fetten wie verschmusten Kater mit einem »Bsssbssbsss« und angedeuteten Streicheleinheiten von der Wohnungstür weg. Kaum bewegte sich der Kater in seine Richtung, stieg er schnell über das Tier und verschwand allein in seinem Büro.
Er hatte mit seiner Steuererklärung noch bis zum späten Abend zu tun. Nebenbei schaute er hin und wieder in seinem Posteingang am PC nach neuen Pressemeldungen zum Fall der Goldschmuggler.
Am Abend legte er sich mit einer Flasche Montepulciano aus den Abruzzen, einem kräftigen, dunkelroten Italiener, und einem Krimi von Edi Graf, der am Bodensee spielte, ins Bett.
Der nächste Tag sollte ein besserer werden, nahm sich Leon vor.
*
Er war schnell aus dem Bett gesprungen, hatte 50 Liegestützen hingelegt und sofort, bevor er ins Bad ging, seinen PC gestartet. Danach rief er Zähne putzend seine E-Mails ab. Zeitgleich, wie seine Privatmails gespeichert wurden, meldete der Posteingang eine Eilmeldung der Pressestelle der Singener Staatsanwaltschaft. Leon öffnete sie und las die Headline: ›In Untersuchungshaft erhängt – 24-jähriger Schmuggler in der Singener Justizvollzugsanstalt heute Morgen tot aufgefunden‹. Leon schluckte, dann schmeckte er, wie die Zahncreme über seinen Gaumen in die Speiseröhre rann. Er lief in das Bad, spuckte den weißen Schaum in das Waschbecken, eilte ungekleidet zurück in sein Büro vor seinen Bildschirm und setzte sich mit seinem nackten Po auf das kalte Leder des Schreibtischstuhls.
Der Name des Toten stand nicht in der Meldung. Aber für ihn stand sofort fest, dass es einer der beiden Goldschmuggler sein musste, die erst vor zwei Tagen geschnappt worden waren. In Ruhe las er den Text noch einmal durch. Dann nochmals die erste Pressemitteilung vom Tag der Verhaftung, die er gespeichert hatte. Festgenommen worden waren zwei Brüder, der eine 24 Jahre, der andere 22 Jahre alt. Der jüngere wurde verdächtigt, der Schütze gewesen zu sein, der den Zollbeamten lebensgefährlich verletzt hatte. Seltsam, dachte Leon und sortierte: Der ältere hatte sich umgebracht, nicht der jüngere, der doch wegen des lebensgefährlichen Schusses einsaß. Nach einer Zeitung vom Vortag hieß der ältere Bernd, der jüngere Sven. Demnach hatte sich Bernd, der ältere der beiden Vierneisel-Brüder, erhängt!
Leon blickte aus dem Fenster. Ein über die Nacht aufgefrischter Westwind hatte den Nebel der vergangenen Tage weggeblasen. Jetzt war die Sicht auf seinen geliebten Bodensee klar. Er schaute von seinem Schreibtischstuhl