Sommergewitter. Erich Loest
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»In der USPD, später wieder in der SPD.« Mannschatz registrierte knappes Nicken. Auf das kurzgeschnittene eisengraue Haar und die Stirnfalten schaute er hinab, auf strähnige Brauen und die Nase mit einer Narbe von der Wurzel bis zur Spitze. Dieses Nicken kannte er, feststellend, wertend. Genauer: abwertend. KP-Genossen reagierten so gegenüber dem kleinen, großmütig geduldeten Bruder.
»Schreib mir deine Adresse auf wegen der Kur. Ich hab manchmal in Bitterfeld zu tun, da besuch ich dich, Meiner.« Wenn Hallenser Freunde sich begegneten, rief der erste dieses Wort halb fragend, der zweite antwortete bestätigend ebenso eine Terz tiefer. »Wie steht’s mit der Familie?«
Seine Frau arbeite in einer Betriebsküche, habe noch ein Jahr bis zur Rente. Die Tochter bei der Reichsbahn, der Schwiegersohn seit kurzem Meister. Zwei Enkel.
»Mit der Wohnung alles in Ordnung?«
»Siedlungshaus, reicht für uns.«
»Ich komm mal vorbei.«
Seit einundvierzig Jahren in der Partei, die Nazipause großzügig mitgerechnet, manchmal in einer minderen Funktion, beispielsweise für Schulungsmaterial zuständig, nie eingesperrt, nie verprügelt, immer das brav beitragzahlende Mitglied, ausgenommen die wilden zehn Tage während des Mitteldeutschen Aufstands im März 1921, über den immer noch diskutiert wurde – galt er nun als ruhmvoller revolutionärer Akt, oder war er ein von kurzsichtigen Revoluzzern angezetteltes, von vornherein zum Scheitern verurteiltes Abenteuer? Über den zeitweiligen militärischen Anführer Max Hoelz gingen die Meinungen genauso auseinander. Nun hier mit Sindermann und Pfefferkorn, er würde Herta haarklein davon erzählen. Noch ein lungenfüllender Zug, ein hübscher kleiner Wirbel im Hirn.
Jemand öffnete ein Fenster, kalte Luft stürzte herein, erst jetzt merkte Mannschatz, in welchem Qualm sie standen. In einer halben Stunde ging sein Zug. Wenn er schon keine Flasche Bier abstauben konnte, sollte er wenigstens eine Schachtel Zigaretten für Hartmut verhaften. Daheim würde er keine Frühstücksbüchse mit Wurststullen auf den Tisch stellen können wie dieser Schlaubengel – schön, er ließ sich nicht korrumpieren. Ziemlich dußliger Gedanke, vielleicht hatte er doch einen in der Krone. Nach irrsinnigen Umwegen war es endlich geschafft wie erträumt, als er als Lehrling in die Gewerkschaft eingetreten war: Du gehörst dazu, Brüder in eins nun, die Internationale erkämpft das Menschenrecht. Wurstsatt war er, fleischsatt, bier- und rauchvoll. Das sollte er Hartmut klar machen: Du erreichst nichts ohne die Partei, du kannst nur was ändern, wenn du drinne bist. Nimm dir noch ’ne Flasche, Junge, wir gehn rüber zu Pfefferkorn, wir sind die stärkste der Partein. Wir stecken uns ’ne Schachtel ein, wie wir heute rauchen, werden in drei Jahren alle rauchen.
»Genossen, ich bitte um Ruhe, um Ruhe. Genossen, der Genosse Josef Wissarionowitsch Stalin, so wird eben gemeldet, der geliebte Führer des Weltproletariats und aller friedliebenden Völker, der Vater des Fortschritts und der Freiheit, unser Genosse Stalin ist in Moskau gestorben.«
Mannschatz stellte das Glas ab und wischte sich über den Mund. Alle um ihn standen nun, das Gesicht dem Podium zugewendet. So würden sie eine Weile verharren, erstarrt. Vielleicht hielt jemand eine Rede. Flammender Appell oder so was. Unverbrüchlich. Mit einer Flasche Bier für Hartmut war es nun natürlich aus. Ziemlich kläglicher Einfall, wenn man die Umstände bedachte. Typisch für einen, der aus der SPD kam, würde Pfefferkorn urteilen. Nun mal ganz klar: Du hast keinen Grund, Alfred, einen so blöden Gedanken auszuspinnen, so besoffen bist du nicht, bist du überhaupt nicht.
2
Wann hatten sie das letzte Mal getanzt? Die Combo – Klavier, Schlagzeug und Saxophon – jazzte sanft vor sich hin mit einem Streifzug von »Blueberry Hill« über »Basin Street Blues« bis zu einer Andeutung von »Lili Marleen« und schloß mit »Mack the Knife«, was Clara Brücken lächeln ließ. Der Pianist ahmte den heiseren Louis nicht übel nach. Ihr schien, als spielten die drei vor allem zum eigenen Vergnügen, nicht immer zerhackten sie den Auftritt in tanzübliche drei Häppchen mit Trommeltusch am Schluß. Clara Brücken hätte so stundenlang tanzen mögen, sie betrachtete den vollbärtigen Fünfzigjährigen am Klavier, den hohlwangigen Saxophonisten und den Bubi am Schlagzeug, der sich vom Pianisten die Einsätze zunicken ließ. Sie hätte gern mitgesungen, konnte aber kein Englisch, und ein Irgendwie-Dabdudei wäre ihr und vor allem Hartmut albern vorgekommen; das riskierte sie allenfalls bei einem Schwips. Davon blieb sie an diesem Abend und in nächster Zukunft meilenweit entfernt, das stand fest.
Sie gingen zurück an den Tisch mit ihren Freunden Gitti und Heinz Gärtner. Inzwischen waren vier Portionen Eis nebst zwei Spezi serviert worden, ein landesüblicher brauner Schnaps. Der sei gefährlicher als weißer, erklärte Heinz Gärtner, den weißen sehe die Leber nämlich nicht, der fließe, ohne Schaden anzurichten, unbemerkt um sie herum. Trotzdem Prost! Neben den bunten Eiskugeln lag gekochter Rhabarber, denn die Kreation hieß »Eis mit Früchten«. Jetzt das Thema: Bier genehmigten sie hier in der Leipziger »Femina« nur zusammen mit Sekt als sogenanntes Herrengedeck, an der Tür machten sie Sperenzien, wenn einer ohne Krawatte kam. Vornehm nur einmal! Clara fragte dazwischen: »Was würdet ihr sagen, wenn wir im Sommer nach Mecklenburg ziehen?«
Da staunten Gärtners, und Hartmut Brücken erläuterte, die Gewerkschaft hätte ihn und zwanzig andere Metaller nach Halle beordert. »Großer Bahnhof: Facharbeiter aufs Land! Vorher vierteljähriger Lehrgang an Traktoren und Mähdreschern. Die Besten werden sofort als Leiter von Reparaturstationen eingesetzt, die andern steigen nach einem Jahr auf.«
Die liebsten Freunde zu verlieren wäre bitter, beteuerten Gärtners. Brücken schätzte, vermutlich müßte er die erste Zeit allein dort oben vegetieren, eine Wohnung wäre natürlich nicht im Handumdrehen zu ergattern. Später sollten neben den Reparaturstationen dreistökkige Wohnblocks mit städtischem Komfort hochgezogen werden. Darauf könne natürlich niemand warten, also bliebe erst einmal eine hoffentlich nicht zu baufällige Kate. Wenn es überhaupt zu all dem kommen sollte.
Vielleicht hauten noch mehr Großbauern nach dem Westen ab, vermutete Gärtner, und Brückens könnten sich ins warme Nest setzen? Und? Gärtner rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Ehe Brücken antworten konnte, setzte die Musik ein. Clara sprang sofort hoch. »Dauernd Damenwahl«, maulte Hartmut ergeben.
Auf der Tanzfläche fanden ihre Körper sofort zueinander, Arm paßte um Hüfte, Brust an Brust, Schenkel in Schoß. Sie spürte hochwachsenden Druck und lobte: »He, du Stehaufmännchen!« Er brummte geschmeichelt, nun begänne eine rasante Zeit ohne Vorsicht und Sorge, alle Kraft voraus: Jetzt kommen die lustigen Tage, Schätzel olé!
»Ham Se nich ein Hemd für Friedolin«, sang der Schlagzeuger. Bis Bitterfeld hatte sich herumgesprochen, daß im Süden Leipzigs ein Sexualtäter nachts durch offene Fenster stieg, schlafende Frauen erschreckte und Unterwäsche mitgehen ließ. Fetischist, kein Vergewaltiger, noch nicht. Clara legte den Arm um Hartmuts Hals und biß ihn ins Ohrläppchen. Ein wunderbarer Abend, wie er bestenfalls einmal im Monat zu organisieren war, denn beide arbeiteten im Schichtdienst, und Gärtners mußten jemanden finden, der auf die Kinder aufpaßte. Eintrittskarten waren schwer zu ergattern; wenigstens konnte Clara von ihrem Schreibtisch aus telefonieren. Letzte Woche hatte der Bahnhofsvorsteher Krach geschlagen: Der private Mißbrauch des Telefons nehme überhand, er werde durchgreifen. Hemsberger, ihr Schreibtischgegenüber, lästerte natürlich: Im Mittelpunkt die Sorge um den Menschen!
Am Tisch setzten sie das Thema fort: Brücken verdiene dort oben ein Drittel mehr als in Bitterfeld, dabei wäre noch nicht einmal mitgerechnet, was die jetzige Kampagne anrichten könnte: Mal war von völlig neu zu begründenden Normen die Rede, dann vom pauschalen Anheben um mindestens zehn Prozent. Jeden Tag neue Hektik.
»Ich weiß selber nicht, was ich will«,