Sommergewitter. Erich Loest

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Sommergewitter - Erich Loest

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stand leise auf, um seine Frau nicht zu wecken, und setzte sich in der Küche ans offene Fenster. Die Nacht war lau, die Stadt still, bald würden die ersten Straßenbahnen ausrücken.

      Thekla schlief wie immer ihre acht oder zehn Stunden durch, gesunder Schlaf der Jugend. Es lebte sich voller Glück und ohne jeden Konflikt mit ihr, noch. Sie sah in ihm den Helden; wie sie schwärmte gleich nach dem Krieg so manches Mädchen im frischen Blauhemd. Ihr Elan spornte ihn an, das konnte in fünf oder zwei Jahren schon Vergangenheit sein. Er hielt nicht mehr viel aus, ein simpler Schnupfen, den andere wegsteckten, schmiß ihn für Wochen um. Irgendwann verfaulte er im Sanatorium, sie war dann an einen alten Knakker gekettet. Verzichtete auf Scheidung aus Mitleid und Respekt; einen verdienten Kämpfer ließ eine Genossin nicht im Stich. Sie mußte höllisch aufpassen, wenn sie einen Mann mit ins Bett nahm, war von Moralgetue und Gehässigkeit umzingelt. Er hatte nicht auf seine Mutter gehört, als sie ihn warnte: Du zerrst das blühende Ding mit in deinen Sarg.

      Er rührte Haferflocken an, endlich wurde es fünf. Wenigstens war es hell, die Vögel begannen, ihre Reviere abzustecken. Vor dem Winter grauste ihn. Halb sieben würde er endlich abgeholt werden. Die Frühnachrichten im Radio: Um den großen weisen Stalin zu ehren, verpflichtete sich das Walzwerk Hettstedt, im Wettbewerb des zweiten Quartals durch fünfzehnprozentige Normerhöhung die Bruttoproduktion um zehn Prozent und die Arbeitsproduktivität um vier Prozent zu steigern, während die Selbstkosten vermindert würden. Das bedeutete Senkung der Löhne, was sonst.

      Leise öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, erkannte im Dämmerlicht hinter der zugezogenen Gardine, daß sich Thekla halb aufgedeckt hatte, eine Schulter lag bloß. Er streichelte ihren Nacken und murmelte einen Morgengruß und daß er jetzt fort müsse; sie reagierte stöhnend. Er legte seine Lippen auf ihre Schulter, und während er ihren Duft einsog, überlegte er, ob wohl ein Fünfundzwanzigjähriger in solcher Situation die Decke wegzog und stürmisch über die Geliebte herfiel, sie »nahm«, wie es in Büchern hieß, ein wenig Gewalt war zumindest am Anfang dabei, war »im Spiel«, das klang schon doppeldeutig. Das war passiert in seiner ersten kurzen Ehe, als er aus dem Knast gekommen war nach dem halben Jahr in Zwickau, 1929, wegen Waffenschmuggels aus Böhmen herüber. Wann hatten Thekla und er sich zuletzt geliebt, diese Woche nicht, jetzt war sie beinahe jeden Abend unterwegs. Ihren Stalin-Vortrag wiederholte sie immerzu, besonders tiefgründig fand er ihn nicht, fürs Parteilehrjahr gerade noch geeignet. Er nahm ein Stück Haut zwischen die Zähne, festes Fleisch, biß sanft zu, ließ locker, als sie zuckte. Bis heute abend irgendwann.

      Kodelwitz hatte das Arbeitszimmer schon gelüftet und den Tischkalender umgestellt. Vierzehn Stunden im Dienst, meist gutgelaunt, fähig, ein Dutzend Probleme aufeinander abzustimmen und zu verzahnen. Nicht immer mit dem Blick auf das Wesentliche, das würde sich mit der Zeit ergeben. Er war kaum dreißig, seit kurzem Hauptmann, so einem stand jede Laufbahn offen. »Sechs Termine heute, Bruno. Du wolltest mit dem U-Knast beginnen, Vernehmung von Schmolka. Nachmittags Vorbereitung der Veteranenkommission, vielleicht mit Mannschatz. Danach tanzt aus Eisleben ein Genosse an und berichtet über diese Panne bei der Mitgliederwerbung.«

      »Das erzählst du mir am Mittag noch mal.«

      Auf dem Schreibtisch »Neues Deutschland« und »Freiheit«. Die Beteiligung am Parteilehrjahr war von siebzig auf fünfzig Prozent abgerutscht, erstaunlich, daß derlei öffentlich gemacht wurde. Verhaftungen im Zeiss-Werk Jena, eine Bande von Spezialisten hatte Forschungsunterlagen nach dem Westen verschoben. Appell der Volkskammer an den Bonner Bundestag, alle Bemühungen zu unterstützen, »eine Konferenz zur Vorbereitung des Friedensvertrags mit Deutschland und der Wiederherstellung der deutschen Einheit einzuberufen, was voll und ganz dem Standpunkt der Sowjetregierung in dieser Frage entspricht«. Theaterdonner. »Und sonst?«

      »Lästiges Zeug vom Bezirksgericht, wieder die Sache Erna Dorn.« Kodelwitz wedelte mißmutig über eine Anfrage hin. »Die Dorn schwindelt das Blaue vom Himmel. Oberrichter Brettmann will unsre Untersuchungsergebnisse zurückweisen, ein unerhörter Fall.«

      »So was darf unter keinen Umständen einreißen.«

      »Hab ich unseren Leuten auch gesagt. Der Vernehmer der Dorn ist ziemlich neu in dieser Funktion.«

      »Wenn alle Stränge reißen, muß Wendler ran. Unsere Ermittlung muß sozusagen Gesetzeskraft erhalten, daran darf keiner rütteln dürfen, und ein Weichling wie Brettmann schon gar nicht.«

      »Vielleicht ist die Dorn einfach übergeschnappt und spinnt.«

      Pfefferkorn wußte: Wenn Häftlinge wochenlang zusammen auf Zelle lagen und der Gesprächsstoff ausging, begannen endlose Prahlereien. Bei Frauen am stärksten. Die eine behauptete, in Schlesien sechs Mietshäuser besessen zu haben, die andere, in Pommern eine Brikettfabrik. Und jede zwei Dienstmädchen. Männer, die fürs Ritterkreuz vorgeschlagen waren, fanden sich haufenweise – leider wäre das Kriegsende dazwischengekommen; der Führer hätte schon … Erna Dorn, Diebin und Betrügerin, zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, wollte im KZ Ravensbrück Aufseherin über drei Baracken gewesen sein.

      »Ich hab mir die Dorn mal angesehen, Bruno, mickrig, nicht fürn Sechser hübsch, aber wilde Phantasie. Heute das, morgen das absolute Gegenteil. Dünne Beweislage voller Widersprüche. Drei verschiedene Geburtsorte in Ostpreußen.«

      »Soll das Bezirksgericht seinen Mist selber ausbaden.« Die Richter dort hatten Punkte gegenüber dem mächtigen Leipzig sammeln wollen, die Pfeife Brettmann und der vor Ehrgeiz stinkende Holls. Keiner mit Augenmaß. Leipzig verdonnerte Fälscher von Lebensmittelkarten, daß die Schwarte krachte: Todesstrafe und zweimal lebenslänglich. Brettmann kriegte von allen Seiten Pfeffer: Der Klassenkampf verschärft sich gesetzmäßig, und was passiert bei dir? Erst versöhnlerisch, bürgerlich-formalistisch, plötzlich ultralinks. Brettmann, blasse Lusche, eventuell christlich angehaucht von seiner Frau. Aktenwissen – wenn seine Knochen auch schlappmachten, bestärkte sich Pfefferkorn, sein Gedächtnis war eisern, er kannte seine Pappenheimer bis zu den Saufgewohnheiten und Seitensprüngen. »Also, Wendler soll sich die Dorn noch mal vorknöpfen.«

      Jetzt die Akte Schmolka. Die Bezirksleitung bohrte, drückte. Es war die Frage, und die Bezirksleitung »stellte sie scharf«, ob dieser Fall mit vergleichbaren Verbrechen gekoppelt zu einem Prozeß mit propagandistischer Wirkung ausgebaut werden oder ob Schmolka rasch und allein verknackt werden sollte, mit zwanzig gesiebten Zuhörern statt zweihundert. Zehn Jahre Zuchthaus oder zwölf. Besitzer einer Bauschlosserei mit dreißig Beschäftigten, zweckfremder Einsatz von Material, bei der Hausdurchsuchung siebzehn Gläser mit eingekochter Wurst, eine halbe Speckseite und drei Pfund Rohkaffee gefunden, acht Kartons Friedensseife, Anzugstoffe. In diesen Kreisen wusch immer eine Hand die andere. Hatte Arbeitskräfte und Material abgezweigt, um eine Pension im Harz in Schuß zu halten, dort machte er mit seiner Familie Urlaub. Im Kirchenvorstand, seine Kinder in der Jungen Gemeinde. Mal ansehen, den Burschen.

      Kodelwitz telefonierte zum Untersuchungsgefängnis hinüber – ja, Schmolka werde gerade vernommen. Kodelwitz bestellte den Dienstwagen und gab als Ziel an: Steinstraße. Jedesmal, wenn Pfefferkorn durch die Schleuse fuhr, wenn das Tageslicht ausgesperrt wurde und es nach feuchter Mauer, Keller und Angst roch, überfiel ihn die Erinnerung, daß ihn die Nazis hier geprügelt hatten, bis die Haut platzte. Sie schleppten ihn nach Buchenwald, da baute Schmolkas Vater gerade seinen Betrieb aus, verdiente sich dumm und dämlich an der Rüstung, beschäftigte im Krieg Zwangsarbeiter. Darüber standen im Vernehmungsbericht nur Bruchstücke, das würde zum Part des Staatsanwalts gehören, zum politisch-moralischen Umfeld. Der Angeklagte als Leutnant im Afrika-Korps. Pfefferkorns frischentdeckter alter Kumpel zu dieser Zeit Bauarbeiter in der Organisation Todt, er hatte sich die Kaderunterlagen zustellen lassen. Mannschatz beim Bunkerbau in Norwegen, beim Reparieren von Brücken in der Ukraine. Er mußte alles wissen, ehe er ihn in die Veteranenkommission einbaute. Beide Söhne bei der Infanterie, der eine in Griechenland, der andere vor Leningrad gefallen. Niemand aus der Familie in der Waffen-SS. Mannschatz

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